एकं सद् विप्रा बहुधा वदन्ति
“ekam sad viprā bahudhā vadanti”
“Es gibt eine Wahrheit, die Weisen benennen sie verschieden”
Rig Veda 1.164.46
Diesen 3000 Jahre alten Vers aus dem Rig Veda halte ich für höchst bedeutsam. Wenn wir auf der Suche nach Wahrheit sind bzw. uns auf einem wie auch immer gearteten spirituellen Weg befinden, so wollen wir gerne Klarheit erlangen und verstehen. Wir wollen Antworten auf unsere Fragen bekommen und “die Wahrheit” erlangen, und vergessen dabei häufig, dass diese nicht objektiv definierbar ist und niemals sein kann.
Seit Urzeiten versuchen die verschiedenen Philosophien und Religionen sowie deren Vertreter ihre eigene Sichtweise als ultimativ und überlegen zu vermitteln und proklamieren ihre verschiedenen Wahrheiten als absolut und den anderen überlegen. Das geht so weit, dass sie andere Lebensweisen für nutzlos halten und andere Konzepte als Irrweg bezeichnen, das ist nicht nur arrogant, sondern durchaus auch destruktiv. Ich denke eine der wesentlichen Ursachen für die großen Probleme der Menschheit liegt in der Tatsache begründet, dass der menschliche Geist dazu neigt sich für wichtig und besonders zu halten, so eben auch im Falle der Weltsicht.
Je wichtiger sich der einzelne mit seiner besonderen Denkweise nimmt, desto mehr grenzt er sich damit von den anderen Menschen ab, oder anders gesagt: je mehr der Mensch sich mit seinem „Ich“ (=Körper und Person) identifiziert, desto mehr definiert er sich als „anders“ und trennt sich damit vom Kollektiv. Wir sind eigentlich Teil eines größeren Ganzen und als solches sollten wir uns im Kosmos einfügen und bereit sein, dem großen Ganzen zu dienen, statt uns künstlich davon abzuheben. Natürlich sollten wir nach unserer Wahrheit suchen und uns bemühen eine möglichst universelle Sicht auf die Dinge zu kultivieren, jedoch ist es wohl fatal, wenn man sich und seine Meinung für wichtig hält, diese Haltung stürzt die Menschheit ins Verderben.
Rig Veda und die alten Rishis – Eine Wahrheit, viele Konzepte
Und so haben die alten Rishis als Begründer des Yoga und Hinduismus bereits im Rig Veda vor 3000 Jahren einen zentralen Satz formuliert, der für jeden Yogi und sowieso für jeden Menschen offenen Herzens maßgeblich sein sollte:
„Es gibt eine Wahrheit, die Weisen benennen sie verschieden!“ Rig Veda 1.164.46
Dieser simple Satz aus dem Rig Veda hat eine enorme Tiefe und er entkräftet jede Diskussion um transzendente Weisheiten, denn die Wahrheit lässt sich unendlich vielfältig definieren. Jeder Mensch betrachtet die Welt auf seine eigene Art und beschreibt seine Erfahrungen und Erkenntnisse ebenso auf seine eigene Art. Ein Weiser wird nach dem Erreichen der Erleuchtung, oder wie auch immer wir die Einheit mit Gott bezeichnen wollen, seine Erfahrungen und Erkenntnisse auf seine eigene Art zum Ausdruck bringen, wenn überhaupt.
So wird natürlich ein australischer Ureinwohner, ein nordafrikanischer Indianer, ein arabischer Wüstenvater und ein europäischer Großstadtbewohner jeweils höchst unterschiedliche Worte und Metaphern benutzen, um womöglich sehr ähnliches zu beschreiben. Der jeweilige Zuhörer wird dann natürlich, nach dem Prinzip der stillen Post, wieder ganz andere Worte finden um die Beschreibung nachzuplappern. Worte verwässern die Wahrheit und sie verzerren die ursprüngliche Erkenntnis, denn Worte sind immer mit den eigenen Konzepten verbunden, z.B. definiert jeder für sich selbst das Wort „Gott“. Daher sagt ein altes indisches Sprichwort:
„Wenn der Weise mit dem Finger auf den Mond zeigt, sieht der Idiot nur den Finger!“
Wir können gar nicht anders, denn göttliche Erfahrungen und Erkenntnisse des Absoluten sind subjektiv (eigentlich ist die Gotteserfahrung objektiv, aber sie kann nur subjektiv vermittelt werden), nicht teilbar und nicht beschreibbar. Wenn wir uns nun aber der Wahrheit nähern wollen und Gott tatsächlich erleben möchten, dann sind wir davon abhängig den Worten zu vertrauen von denen, die diesen Weg bereits vor uns gegangen sind. Wir brauchen normalerweise eine Kraft von außen, die uns hilft über die Grenzen von Körper und Person hinauszuwachsen, sei es ein Guru, die heiligen Schriften oder Gott in unserem inneren. Man kann sich sozusagen nicht an den eigenen Haaren aus dem Dreck ziehen, dazu sind wir zu sehr verstrickt mit unseren Konzepten und Vorstellungen.
Der Finger, der auf den Mond zeigt
Ich möchte nochmals zurückkommen auf das Bild mit dem Weisen und dem Finger, nun aber als geometrische Figur. Man stelle sich die Ausrichtung auf die Wahrheit als Linie vor, ein Punkt ist der Weise und der Finger gibt die Richtung der Linie an, der andere Punkt ist der Mond als Sinnbild für die Wahrheit, auf den der Weise deutet. Da wir den Mond (noch) nicht sehen können, sollten wir die Wahrheit genauer eingrenzen, indem wir andere Weise an anderen Stellen bitten uns den Mond zu zeigen. Mit mehreren Referenzpunkten wird die Position immer klarer, oder anders gesagt: es ist hilfreich, wenn wir unsere eigene Sichtweise immer wieder hinterfragen und uns darum bemühen die Welt und das Leben immer wieder von anderen Standpunkten aus zu betrachten. Die Wahrheit schließt keine Sichtweise aus, denn sie enthält alle, sie lässt sich nicht in Worte Kleiden denn Worte sind immer nur Pfeile, die auf etwas hindeuten.
Daher empfehle ich auch bei Unterhaltungen mit andersdenkenden stets darüber bewusst zu sein, dass der andere selbstverständlich nur seine eigene Wahrheit (aner-) kennt und er diese auch aus guten Grund vertritt, denn die eigene Wahrheit haben wir ein Leben lang entwickelt. Es nutzt niemanden, wenn wir uns in einer Diskussion gegen Andere positionieren denn das erzeugt nur Trennung und Konkurrenz. Man hat tatsächlich festgestellt, dass es in Diskussionen meist nicht um Argumente geht, sondern darum zu „gewinnen“, denn man schaltet sehr schnell auf den „Flucht Kampf Mechanismus“ um wenn man sich in seinem Selbstverständnis bedroht fühlt. Wir geraten in Stress und versuchen nicht als (emotionaler/energetischer) Verlierer aus der Diskussion herauszukommen, es ist in einer solchen Situation das Kleinhirn aktiv welches kein Umdenken zulässt statt das kreative und flexible Großhirn. Also viel hilfreicher ist es Gemeinsamkeiten zu betonen und den anderen in seinem Denken zu bestätigen, dann ist der Gesprächspartner offen und man kann seine eigene Sichtweise sozusagen ergänzen bzw. man kann gemeinsam zu einer höheren Wahrheit finden, indem man sich tatsächlich austauscht und offen für einander ist.
Ganz im Sinne des Rig Veda Zitates:
एकं सद् विप्रा बहुधा वदन्ति
“ekam sad viprā bahudhā vadanti”
“Es gibt eine Wahrheit, die Weisen benennen sie verschieden”
Rig Veda 1.164.46