Was ist Yoga? Diese ersten vier Verse in Patanjalis Yoga Sutra geben eine Erklärung darüber, was Yoga aus dem Blickwinkel des Raja Yoga bedeutet.
Was ist Yoga? Yoga Sutra 1.1-4
Der große Rishi und Begründer der philosophischen Sichtweise (Darshana) Patanjali versucht in den ersten 4 Versen die Frage knapp zu beantworten: “Was ist Yoga?” Um dann im weiteren Text detailliert zu vertiefen, wie man den Zustand erreicht und was es für Möglichkeiten gibt. Mir erscheint es wichtig, hier die verschiedenen Bedeutungsebenen des Wortes “Yoga” zu erwähnen, in diesem Zusammenhang verstehen wir “Yoga” als Synonym für Patanjalis Raja Yoga, z.B. in der Bhagavad Gita ist mit “Yoga” meistens Karma Yoga gemeint. Diese vier Verse gelten als Zusammenfassung der 196 Verse und sind sicher die berühmtesten Verse aus dem Yoga Sutra des Patanjali. Sie geben eine erste Antwort auf die Frage “Was ist Yoga?” Vor allem der 1. Vers “Atha Yoga Anusasanam” und der 2. Vers “Yogas Chitta Vritti Nirodaha” sind berühmt und wichtig.
Das Yoga Sutra des Patanjali enthält insgesamt 196 Verse die in 4 Abschnitte eingeteilt sind. Es ist das Grundlagenwerk des Raja Yoga und die einzelnen Verse haben jeweils verschiedene Bedeutungsebenen denen man sich nur schrittweise und in Meditation nähern kann.
Audiokommentar: Die ersten 4 Verse des Yoga Sutra: Was ist Yoga?
Ich versuche das Werk des Weisen Patanjali auf verschiedene Weisen dem Leser näherzubringen, unter anderem durch Vorträge mit verschiedenen Aspekten des Yoga Sutra. Man sagt, dass die ersten 4 Verse eine Zusammenfassung des gesamten restlichen Textes enthalten, daher habe ich in diesem Vortrag diese 4 Verse im Einzelnen kommentiert, im Anschluss dann eine genaue Analyse der Verse 1-4 des Yoga Sutra.
Hier findest du noch einen weiteren Audiokommentar zu diesen Versen 1-4 des Yogadarshana.
Du findest auf diesen Seiten inzwischen fast alle Verse des Yoga Sutra aufbereitet mit Wort-für-Wort Übersetzung, möglichen Übersetzungen und Kommentaren.
Yoga Sutra Vers 1.1, atha yoga-anuśāsanam
1.1. अथ योगानुशासनम्
atha yoga-anuśāsanam
atha = jetzt, nun, sofort
Yoga = Yoga; Einheit, Vereinigung
anusasanam = Lehre, Auslegung, Erklärung
Jetzt wird die Erfahrung der Einheit (Yoga) erklärt.
Oder
“Einssein Erklärt sich im Jetzt.”
Der 1. Vers des Patanjali Yoga Sutra beginnt mit “Jetzt/ Nun”, der letzte Vers des Yoga Sutra endet mit “Ewig/ Unendlich”. So sagt man: “Von Atha bis Itti”- Von Jetzt bis zur Ewigkeit ist also der Inhalt der 196 Verse. “Jetzt/ Nun” deutet darauf hin, dass vorher schon etwas war, und so gilt das Raja Yoga als ein fortgeschrittenes Übungssystem, und bedingt zuvor einige Grundlagen und Vorübungen. So kann man klassischerweise erst in Patanjalis Yoga Sutra einsteigen, wenn man bereits ein Stück auf dem spirituellen Weg gegangen ist, und bereit ist tiefer zu gehen. Es braucht einen starken Willen und einen klaren Geist um in den Weg des Raja Yoga einzusteigen. “Jetzt zu sein” also gegenwärtig, achtsam und präsent zu sein ist Ziel und Übung aller Spiritualität. Und so erklärt sich die Erfahrungswissenschaft des Yoga nur durch das Ausrichten der Wahrnehmung auf das momentane Geschehen, nicht durch intellektuelles erfassen der Theorien. “Jetzt erklärt sich das Yoga”, es ist keine Theorie und nichts was man irgendwann am Sankt Nimmerleinstag erfährt. Nur das Ausrichten auf die Gegenwart ermöglicht das erleben des Zustands des Yoga. “Yoga” bedeutet Einssein, Verschmelzen, in Harmonie sein. “Yoga” ist ein Wort mit vielen möglichen Übersetzungen. Letztlich ist mit dem Zustand des Yoga das Erfahren bzw. Erkennen des Einheitsbewusstseins gemeint, das Überwinden des beschränkten Alltagsbewusstseins hin zu einem Erfahren dessen was die Natur des Selbst ist. Und so beginnt diese Erläuterung mit dem klaren ausrichten auf “Atha”, Jetzt. Und natürlich leitet er mit diesem Vers die Erläuterung des “Yoga”-Philosophiesystems ein. Yoga ist eines der sechs “Darshanas” der orthodoxen Sichtweisen des Hinduismus, und ist begründet in diesem Text.
Yoga Sutra Vers 1.2, yogaś-citta-vṛtti-nirodhaḥ
1.2. योगश्चित्तवृत्तिनिरोधः
yogaś-citta-vṛtti-nirodhaḥ
Yogash = Yoga ist, Einheitsbewusst sein
chitta = Geist, Verstand, Geistfeld
vritti = Gedankenwellen, Geistesbewegungen; auch Prägungen, Vorurteile, Impulse
nirodhah = Zur–Ruhe–Bringen, Aufhören, Beherrschen, Kontrollieren
“Yoga ist das zur Ruhe bringen der Gedankenwellen im Geiste.”
oder
“Im Zustand der Einheit sind die Bewegungen des Geistfeldes zur Ruhe gekommen.”
Sicherlich gibt das Yoga Sutra hier die zugleich bekannteste und präziseste Beschreibung der Frage: Was ist Yoga? Da die Verse des Yoga Sutra meistens nur eine Aneinanderreihung von Substantiven ist, lässt sich der Vers auch einfach mit “Yoga-Geist-Gedanken-Ruhe” übersetzen, aber ein richtiger Satz ergibt natürlich mehr Sinn. Wenn wir die Bewegungen des Geistes, die Gedankenwellen, die Geistes-Impulse zur Ruhe bringen, können wir den Zustand des Yoga erfahren. Das zur Ruhe bringen oder Beherrschen der Regungen des Geistes ist das Ergebnis eines Prozesses, nicht die Aufgabe, die es zu bewältigen gilt, es ist das Ergebnis und nicht die Praxis. Je mehr wir uns auf die Vrittis, also die Gedankenwellen, ausrichten, desto so lauter werden sie. Im Buddhismus wird der menschliche Geist oft als “Monkeymind” bezeichnet. Die Vrittis sind wie eine Horde wilder Affen die um unsere Aufmerksamkeit buhlen. Je mehr wir uns auf die Bewegungen des Geistes ausrichten, desto intensiver werden sie. Der Prozess des zur Ruhe bringen der Gedankenwellen sollte also ein anderer sein als mit den Gedanken zu kämpfen, sie zu unterdrücken oder sie zu bearbeiten. Wenn wir durch Achtsamkeit und Meditation lernen die Aufmerksamkeit beständig auszurichten auf das was ist, ohne dabei durch die Vrittis abzuschweifen, bekommen die Gedankenwellen, die Affen keine Energie mehr, und kommen zu Ruhe. Die Vrittis werden also nicht aktiv zur Ruhe gebracht, sondern sie werden durch wohlwollendes, gleichmütiges akzeptieren nach und nach transparenter und verblassen.
Um das Funktionieren des Geistes an dieser Stelle noch etwas umfassender zu verstehen, empfehle ich den Artikel über das Antahkarana, das Modell des Menschlichen Geistes zu lesen.
Yoga Sutra Vers 1.3, tadā draṣṭuḥ svarūpe-‘vasthānam
1.3. तदा द्रष्टुः स्वरूपेऽवस्थानम्
tadā draṣṭuḥ svarūpe-‘vasthānam
tadâ = dann
drastuh = Sehen, das sehende Prinzip
swarûpe = eigene Natur, eigene Form
avasthânam = Niederlassung, Ruhestelle, Wohnsitz
“Dann ruht der Sehende in seinem wahren Selbst.”
oder
“Dann weilt das wahre Selbst in der Erkenntnis seiner eigenen Natur.”
Dies ist also der sagenhafte Zustand des Yoga. Im Jnana Yoga wird der Zustand beschrieben durch “Sat-Chid-Ananda”- Sein Bewusstsein Glückseeligkeit. Alles außer den drei Attributen wird zu einer selbstgeschaffenen Illusion. Sämtliche Identifikationen und Bindungen mit den Gedankenwellen, den Bewegungen des Geistes werden aufgegeben und der Urgrund des Individuums, die Seele, das höhere Selbst wird erfahren. Der Wahrnehmende löst sich vom Wahrgenommenen und ruht in seiner Quelle. Wobei das Selbst, die Instanz die Wahrnimmt, der Prozess der Wahrnehmung und das Objekt der Wahrnehmung dabei zu einer Einheit verschmilzt: das Bewusstsein der Einheit. Wir sind nicht der Körper, nicht der Geist, nicht die Gedanken, nicht das Erfahrbare. Wir sind die Instanz die Erfährt und letztlich eins ist, mit dem was wahrgenommen wird. Wenn wir uns immer mehr zurückziehen auf den unberührten Beobachter, den unbeteiligten Zeugen, kommen wir dahin das “das sehende Prinzip” in seinem wahren Selbst ruht. Entscheidend ist die Frage: Was bin ich? Objekt oder Subjekt? Oder Eins mit allem?
Yoga Sutra Vers 1.4, vṛtti sārūpyam-itaratra
1.4. वृत्ति सारूप्यमितरत्र
vṛtti sārūpyam-itaratra
vritti = Gedankenwellen, Verhaltensweisen, Bewegungen des Geistes
sârûpyam = Identifizierung, ähnliche Form
itaratra = in anderen Zuständen, an sonsten
“Sonst verzerren Gedanken die Wahrnehmung.”
oder
“In anderen Zuständen ist der Geist mit seinen Bewegungen identifiziert.”
In allen anderen Zuständen außer dem des “Yoga” sind wir also laut Patanjali und seinem Yoga Sutra mit unseren Denkmustern und Programmierungen (=Samskaras) verhaftet. Man sagt das über 90% der menschlichen Gedanken Wiederholungsschleifen sind, wir sind quasi den ganzen Tag damit beschäftigt die gleichen sich wiederholenden Gedanken durchzudenken. Wir sind quasi Opfer unserer eigenen Gedanken geworden, die sich verselbstständigt haben und über die wir keine Kontrolle haben. Wir identifizieren uns mit den Gedanken über die wir uns definieren. Hier zeigt uns Patanjali ganz klar einen Schlüssel zur Selbstverwirklichung: das Auflösen der Identifikation mit den Gedanken. Wenn wir es also durch spirituelle Praxis schaffen uns von den Gedanken zu lösen und sie zu beobachten, können wir uns selbst aus den Ketten des eigenen Geistes Befreien. Der Weg dorthin geht über die Kontrolle unserer Aufmerksamkeit: lernen wir diese zu fixieren, können wir uns von den Denkmustern lösen und frei von falschen Vorstellungen sein. Über die Achtsamkeit und bewusstes Sein im Hier und Jetzt habe ich einen Artikel erstellt der sicher hilfreich ist.
Soweit mein Kommentar zu den ersten 4 Versen des Patanjali Yoga Sutra.
Was ist Yoga?
Yoga ist zunächst eine Sammlung von Körperübungen, eine uralte Praxis, die sich auf das körperliche, mentale und spirituelle Wohlbefinden konzentriert. Yoga beinhaltet die Kombination von Atemübungen (Pranayama), Asanas (Körperhaltungen) und Meditation (Dhyana), um den Körper gesund zu halten, Stress abzubauen, Energie und Flexibilität zu steigern sowie innere Ruhe und Gleichgewicht zu erlangen. Es gibt viele verschiedene Yogastile – von sanft bis aktiv – sodass jeder die geeignete Art der Praxis für sich finden kann. Mit regelmäßigem Yoga-Training erhalten Sie nicht nur mehr Vitalität und Gesundheit, sondern werden auch emotional gestärkt und können Ihr Leben in Richtung innerer Freiheit lenken. Aber es ist noch viel mehr: Integrales Yoga ist eine Synthese aus verschiedenen Yogawegen, inspiriert von den Lehren der Rishis und anderen Weisen. Es beinhaltet eine breite Palette an Techniken, die das körperliche, mentale und spirituelle Wohlbefinden fördern sollen und sich jeweils nahtlos in den vier traditionellen Zweigen des Hatha-Yoga – Bhakti Yoga (Gottesliebe), Jnana Yoga (Selbsterkenntnis), Karma Yoga (selbstlose Handlung) und Raja Yoga (psychische Energien) – integrieren.