Der spirituelle Weg soll zur “Selbst“-Verwirklichung führen, bzw. in der Erkenntnis des Selbst münden. Aus dem Blickwinkel der Lehre des Advaita Vedanta, ist daher ein rechtes Verstehen des Atman, also des wahren Wesenskern entscheidend für diese Verwirklichung. Wenn man versteht, wie der Wesenskern in Relation zur Welt steht, kann man auch auf andere spirituelle Systeme viel tiefer blicken, und viele falsche Vorstellungen überwinden. Entscheidend für das Verstehen und späteres Erkennen des Atman ist, dass es hierbei werden um die Person, noch das Ego oder den Verstand geht. Auch nicht Gefühl, Energie oder irgendetwas “erfahrbares” ist mit dem Selbst gemeint. Es heißt z.B. im christlichen Kontext:
“Oculus non vidit, nec auris audivit” –
“Was weder das Ohr hört, noch das Auge sieht.”
Im Advaita Vedanta geht es letztlich nur um das Verstehen und Erkennen von dem, was sowieso schon da ist, also dem Selbst, und es gibt demnach eben nichts zu erreichen oder zu erfahren. Wir sind ja bereits das Selbst (wie könnte es anders sein?!) und daher ist das Ziel des spirituellen Weges auch keine zusätzlich zu erreichende Erfahrung, sondern eben nur ein Wechsel der Perspektive aus Ebene der Person in das reine Selbst. Letztlich kann man sagen, ist das Selbst nicht in Worte zu kleiden, weil jedes Wort begrenzend ist und die “Wahrheit” außerhalb von Name und Form liegt. Das Selbst ist, jenseits dessen, was man beschreiben kann, da es kein Objekt ist, sondern das Subjekt. Man kann das Selbst nicht erfahren, so wie jedes andere Objekt, ähnlich wie das Auge sich nicht selbst erkennen kann, sondern es gilt zu erfassen, dass es das reine Gewahrsein ist, das beobachtende Bewusstsein. Es gibt eine Vielzahl an Begriffen, die versuchen das Selbst zu umschreiben, jedoch wird keines davon diesem Numinosen gerecht. Ich versuche hier durch eine Auflistung etwas Klarheit bezüglich des Selbst zu schaffen, ich hoffe es wird deutlich, dass das Selbst eben nicht als Objekt erfahren werden kann, sondern nur als Subjekt erkannt.
Atman ist Erkenntnis, nicht Erfahrung
Es ist auch die “Erleuchtung” oder “Moksha” (=Befreiung) keine zusätzliche Erfahrung, sondern nur eine Erkenntnis dessen, was sowieso schon immer ist. Ich denke der Begriff des Selbst ist der Schlüssel für die Verwirklichung. Im Advaita Vedanta wird vor der Verwirklichung der Nondualität getrennt und unterschieden zwischen dem Selbst und der Person mit all seinen Erfahrungsebenen. Also zwischen Atman/ Brahman und Jiva/ Upadhi, üblicher Weise erfahren wir die Welt als scheinbar getrenntes Individuum, jedoch wollen wir erkennen, dass wir das Selbst und eins mit allem sind. Wir sind schon immer verbunden mit allem, ganz, vollständig und ohne Mangel, wir wissen es bloß noch nicht.
Klassische Definitionen des Atman
Das Selbst lässt sich zunächst mit einigen Sanskritbegriffen umschreiben, welche wiederum mehrere mögliche Übersetzungen ins Deutsche haben:
- Sat Sein, wirklich, wahr, echt. Das Selbst ist die letztendliche Wahrheit, jenseits aller fluktuierenden Objekte. Also das, was Bestand hat und nicht vergeht.
- Chid Wissen, Bewusstsein, Wahrnehmung. Das Selbst ist das reine Gewahrsein welches ungeiltert und ungefärbt, es ist das bewusstsein an sich, das neutrale beobachten.
- Ananda Wunschlosigkeit, Freude, Segen. Das Selbst ist vollständig und komplett, ihm fehlt nichts und daher hat es die höchste Befriedigung oder Fülle.
- Satyam rein, konstant, pur, klar. Das Selbst ist unberührt und unverändert, trotz aller Erfahrungen, die in ihm auftauchen und vergehen.
- Shivam Gütig, Gut, Glücksverheissend- in seiner wahren Natur ist das Selbst gut, alles Schlechte und Böse kommt aus der Verstrickung mit den Fängen der Welt.
- Sundaram Schön, Esthetisch- Weil das Selbst mit allem verbunden ist und das Bewusstsein in dem alles erfahren wird ist, ist es wunderschön und makellos.
- Sakshi Bhav Der unberührte Beobachter oder neutrale Zeuge, nicht verwickelt in die Erfahrungen die ständig kommen und gehen.
In der christlichen Gedankenwelt und auch in der Philosophie Kants ist die Rede davon, das Gott zweierlei ist
- Immanent In der Schöpfung enthalten.
- Transzendent Die Welt übersteigend.
Also ist das wahre Selbst das Gleiche wie Gott, und wir verstehen das Selbst als individuellen Ausdruck dessen, zugleich Innewohnend und Darüber hinaus gehend. Der Begriff “Selbst” unterscheidet sich gänzlich von der individuellen Person, es gibt kein individuelles Selbst sondern nur ein einziges Selbst, ein Bewusstsein.
Der Atman in deutschen Hautwörtern:
- Liebe Allumfassende und bedingungslose Liebe ist die Natur unseres Wesens, wir sind diese reine Liebe, alles andere ist nur Teil der großen Illusion.
- Bewusstsein ist unabhängig vom Körper und all seinen Funktionen wie Denken und Fühlen, es ist wie die Leinwand auf dem alles stattfindet und eben reines Gewahrsein.
- Stille Unter all dem Lärm und aller Bewegung liegt die Ruhe, und das ist unser Wesenskern. Wir können und immer dieser Geräuschlosigkeit als Urgrund bewusst sein.
- Frieden unser gott gegebene und normale Zustand ist in Harmonie mit allem zu sein, alles andere ist eine Entfernung von dem, was wir sind.
- Fülle Wir haben alles und brauchen nichts, wenn wir dem vertrauen bekommen wir, was wir brauchen, nur eben vielleicht nicht was wir wollen.
- Ewig Man kann keinen Anfang und kein Ende definieren oder finden, da das Selbst einfach ist, unabhängig von allen Erfahrungen.
Der Atman mit Adjektiven beschrieben:
- Grenzenlos –das Selbst hat keinen Ort und kein Ende, es geht über alles hinaus.
- Ungeboren –es ist niemals entstanden, da es nichts mit dem Körper zu tun hat.
- Unveränderlich –es bleibt immer unverändert, auch wenn sich die Erfahrung wandelt.
- Immerwährend –es gibt kein Ende des Selbst, da es unabhängig von den Objekten ist.
- Gewöhnlich –es ist nicht so besonders wie wir annehmen könnten.
- Passiv –es ist bloßes Gewahrsein, es denkt, fühlt und handelt nicht.
- Unfassbar –wir können es nicht wie ein Objekt erfahren.
- Bewegunslos –es ist statisch und allumfassend.
Der Atman im Vers 2.24 der Bhagavad Gita
In der Bhagavad Gita gibt es einige Beschreibungen des, so in Vers II.24:
“Dieses Selbst kann nicht zerschnitten, verbrannt, befeuchtet oder getrocknet werden. Es ist ewig, alldurchdringend, fest, unverrückbar und ohne Anfang und Ende.”
Also das bedeutet im einzelnen:
- zerschnitten –es ist subjektives Gewahrsein, auch eine Atombombe kann es nicht berühren.
- verbrannt -nichts in der Welt der Erfahrungen kann das reine Bewusstsein verändern.
- befeuchtet & getrocknet –es ist wie der Raum.
- ewig –die Welt der Erfahrungen und Objekte entsteht und vergeht im Selbst.
- alldurchdringend –wir erfahren die Welt im Selbst und alles ist vom Selbst durchdrungen.
- fest & unverrückbar –es ist der Urgrund allen Seins.
- ohne Anfang und Ende –Da die Objekte im Bewusstsein auftauchen und vergehen (und nicht andersherum) ist es immerwährend.
Und auch in Vers IX.18.
“Ich bin das Ziel, der Erhalter, der Herrscher, der Beobachter, die Wohnstatt, die Zuflucht, der Freund, der Ursprung, die Auflösung, die Grundlage, die Schatzkammer und der unvergängliche Same.”
Diesen Vers lasse ich mal so stehen.
Der Atman im Guru Sloka
Hier noch ein wunderschöner uralter Vers aus den sogenannten “Guru Slokas”, der sehr genau die Eigenschaften beschreibt:
brahmānandam parama-sukha-daṃ kevalaṃ jñāna-mūrtim
dvandvātītaṃ gagana-sadriśaṃ tat-tvam-asy-ādi-lakṣyam
ekaṃ nityaṃ vimalam acalaṃ sarva-dhī-sākṣi-bhūtam
bhavātītaṃ tri-guṇa-rahitaṃ sad-guruṃ taṃ namāmi
caitanyaṃ śāśvataṃ śāntaṃ nirākāraṃ nirañjanam
nāda-bindu-kalātītaṃ tasmai śrī-gurave namaḥ
- brahmānandam Unendlich und voller Seeligkeit
- parama-sukha-daṃ höchste Freude
- kevalaṃ jñāna-mūrtim das reine Bewusstsein verkörpernd
- dvandvātītaṃ unberührt von den Gegensatzpaaren
- gagana-sadriśaṃ wie der Himmel
- tat-tvam-asy-ādi-lakṣyam die Essenz von “Ich bin das”
- ekaṃ einzig
- nityaṃ unendlich
- vimalam pur
- acalaṃ unveränderlich
- sarva-dhī-sākṣi-bhūtam der Zeuge des Intellekts
- bhavātītaṃ die Existenz transzendierend
- tri-guṇa-rahitaṃ frei von allen Eigenschaften
- sad-guruṃ taṃ namāmi der Höchste zu verehrende Lehrer
- caitanyaṃ reines Bewusstsein
- śāśvataṃ ewig
- śāntaṃ voller Frieden
- nirākāraṃ ohne form
- nirañjanam rein
- nāda-bindu-kalātītaṃ über Klang, Punkt und Zeit stehend
- tasmai śrī-gurave namaḥ der glückbringende Lehrer wird verehrt
Mögest Du das Selbst erkennen und aufhören dich im nicht Selbst zu verwickeln!