Unterscheidungskraft befreit von Unwissenheit: Die zuletzt kommentierten Verse im Sadhana Pada des Patanjali Yoga Sutra waren hochkomplex und sind nur sehr schwer zu erfassen. Nun aber vermittelt Patanjali in einfachen Worten die Lösung zu unserem Dilemma. Letztlich geht es um Verstehen und Einsehen, aus dieser Erkenntnis heraus gilt es zu agieren und ununterbrochen zu unterscheiden. Durch dieses einsichtige Handeln, ohne sich abermals zu verstricken, lösen wir die Unwssenheit auf und befreien uns vom leidvollen Sein.
Patanjali Yoga Sutra 2.25
2.25 तदभाबात्संयोगाभावो हानं तद्दृशेः कैवल्यम्
tad-abhābāt-saṁyoga-abhāvo hānaṁ taddṛśeḥ kaivalyam
tad = dessen
abhāva = Überwindung, Verschwinden
saṁyoga = Vereinigung, Verbindung, Identifikation
hāna = aufgeben, aufhören, trennen, befreien
tat = das, dessen
dṛśeḥ = des Sehers
kaivalyam = Befreiung, Erlösung, Frei sein
Wenn Unwissenheit schwindet, löst sich die Verbindung, dann ist das Selbst befreit.
oder
Durch Erkenntnis löst sich die Identifikation (Purusha und Prakriti) und der Sehende ist befreit.
Nun also nochmals ganz klar die Lösung für das große Problem des leidvollen Seins in der bedingten Welt, lösen wir Avidya auf, wird auch Samyoga gelöst, und wir erfahren unsere wahre Natur (Purusha) die alles (Prakriti) durchdringt.
Swami Vivekananda kommentiert hier:
“Der Philosophie des Yoga zufolge entstand die Vereinigung der Seele mit der Natur durch Nichtwissen. Das Ziel ist unsere Befreiung von der Natur, sie ist das Ziel aller Religionen.”
Und folglich ist diese Unwissenheit bzw. Verwechslung die Ursache dieser irrtümlichen und leidbringenden Verbindung. Wie bereits mehrfach gesagt geht es hier nciht darum, dass die Welt schlecht ist, sondern darum in der Welt und damit in Frieden zu sein um sich innerlich davon zu lösen.
Swami Vishnu Devananda sagt zu eben diesem Vers:
Wird unwissenheit durch Erleuchtung ersetzt, gibt es für die Individuelle Seele keine Notwendigkeit mehr in der materiellen Welt zu existieren.
Und so ist es aus der Sicht des Yoga unsere Aufgabe die Verbindung bzw. Identifikation (Samyoga) von Purusha und Prakriti aufzulösen, also unser wahres Selbst jenseits des erfahrbaren zu erkennen. Dieses Erkennen ist “Vidya” und der Mangel an echtem erkennen wird “Avidya” genannt. Die höchste Verwirklichung, welche hier Kaivalya genannt wird, ist also womöglich garnicht so spektakulär wie man sich das gemeinhin vorstellt. Es ist das reine Erkennen, dass man schon immer der Purusha war und die Prakriti nur die Objekte sind. Es ist das sich vollkommene lösen von der Welt und zugleich in der Welt sein, es ist das Auflösen der Unwissenheit über die Natur des Selbst.
Patanjali Yoga Sutra 2.26
2.26 विवेकख्यातिरविप्लवा हानोपायः
viveka-khyātir-aviplavā hānopāyaḥ
viveka = Unterscheidungskraft, Differenzieren, Auseinanderhalten
khyātiḥ = Erkenntnis, Begreifen, Einsicht
a-viplava = ununterbrochen, ständig, gerichtet, nicht richtungslos
hanopāyaḥ = Mittel zum Ziel, Werkzeug zum beenden
“Ununterbrochene Unterscheidungskraft ist das Mittel zur Befreiung.”
oder
“Um es zu lösen, ist pausenloses Differenzieren nötig.”
Genau wie in der vedantischen Sadhana Chatustaya, den Bedingungen zur Befreiung, ist auch im Raja Yoga des Patanjali die Unterscheidungskraft das entscheidende Mittel. Im Vedanta wird zwischen vier wesentlichen Differenzierungen unterschieden:
- Satasat Viveka Was ist wahr& wirklich , was ist unwahr und unwirklich
- Atmanaatman Viveka Was ist das Selbst und was nicht
- Nityaanitya Viveka Was ist ewig und was vergänglich
- Sukhaananda Viveka Was ist Freude aus Objekten und was ist wunschlose Freude
Jedoch geht es im Raja Yoga um die Unterscheidung zwischen Purusha und Prakriti, was letztlich auf das Selbe hinaus läuft, jedoch philosophisch einen anderen Hintergrund hat. Raja Yoga und auch Samkhya ist eine dualistische Sicht, dh es wird klar getrennt zwischen Subjekt und Objekt, also Purusha und Prakriti, wohingegen im Vedanta die Trennung nur ein Werkzeug ist, da alles immer eins ist. Die Frage “Was ist Sein und was ist Schein?” müssen wir uns immer wieder stellen um und von den Fängen der Illusion zu lösen. Um nochmals die Begriffe Patanjalis zu verwenden, es geht darum den Sehenden (drik) vom Gesehenen (drishya) zu trennen, und das geht, indem wir uns voller Vertrauen immer wieder über die Aussagen der Meister und Schriften bewusst werden. Also ganz konkret geht es zunächst darum intellektuell einzusehen, das ich nicht der Körper, das Gefühl, die Gedanken, das Energiefeld und nichts wahrnehmbares bin. Dann ist es wichtig die Achtsamkeit bzw. Konzentration zu verbessern um sich mehr und mehr bewusst zu werden und dann aus dieser Bewusstseit heraus zu differenzieren. Also zB bevor man sich über den Regen ärgert sich klar sein: Ich bin losgelöst von Erfahrungen, es sind nur meine Konzepte die aus dem Wetter ein Problem machen. Oder wenn schlechte Gefühle hochkommen wie Wut oder Angst gilt es diese zuzulassen und zu spüren, ohne sich zu verbinden und identifizieren, dann können sie sich auflösen. Wie ich nicht müde werde zu betonen, geht es nicht darum die Welt nichtmehr in vollen Zügen zu geniessen, sondern sich darin unabhängig davon zu machen. Also zu gleich in der Welt zu sein, aber nicht von der Welt, wie man im Christentum sagt.
Soweit mein Kommentar zu den Versen 25 und 26 des Sadhana Pada im Patanjali Yoga Sutra.