In diesem Abschnitt des Kaivalya Pada führt Patanjali nochmals aus, wie wichtig eine klare Unterscheidung zwischen dem gesehenen und dem Seher ist. Denn wenn die Trennung dieser beiden im Laufe des spirituellen Weges immer mehr geschieht, kann das wahre Selbst erstrahlen bis die Einheit erkannt wird. Ohne Fokussierung des Geistes und Unterscheidung seiner Funktionen, kann die Freiheit von den eigenen Mustern nicht erfolgen. Auch wenn verstanden ist, wer ich bin, werden die Programmierungen immer wieder die Kontrolle übernehmen.
Yoga Sutra, Vers 4.22
4.22 चितेरप्रतिसङ्क्रमायास्तदाकारापत्तौ स्वबुद्धिसंवेदनम्
Citerapratisaṅkramāyāstadākārāpattau svabuddhisaṁvedanam
citeḥ = des Bewusstseins, der Erkennende, der Wahrnehmende, das wahre Selbst
aprati = nicht, unwiderstehlich
saṁkramāyāḥ = umherziehen, unstet leben, Gang, Lauf, der von Ort zu Ort wandert
tad = dieses, der, die, das
ākāra = Form, Wesen, Gestalt, Erscheinung, Natur
āpattau = erreichen, eintreten, Versehen, Unfall
sva = eigenes
buddhi = Erkenntnis, Intellekt, Verstand
saṁ = genau, vollkommen
vedanam = Wissen, Wahrnehmung, Empfindung
“Wenn der Geist nicht mehr umherzieht, kommt die Erkenntnis der wahren Form.”
Man kann sagen, dass sich das ganze Yoga nur darum dreht, endlich Ruhe in den Geist zu bringen. Wenn der Geist durch die Praxis des Yoga zur Ruhe kommt, wird der Zustand des Yoga erreicht. Im Zustand des Yoga wird das wahre Selbst erkannt welches zuvor durch die Gedanken verschleiert wurde. Unsere Überzeugungen und tief sitzenden Denkmuster legen einen Filter vor den Geist und sie verzerren damit die die Wahrnehmung.
Dieser Vers spielt auf den zweiten und bekanntesten Vers des Yoga Sutra an, dort wird gesagt:
„Yoga ist das zur Ruhe bringen der Gedankenwellen im Geiste.“
Wobei wir nicht konkret die Gedanken aktiv zur Ruhe bringen können, sondern die Ruhe des Geistes ein Ergebnis der verschiedenen Praktiken ist. Es nutzt uns weder Verdrängen noch Ignorieren der Gedanken etwas. Auch durch Anstrengung können wir keine Ruhe im Geist erzeugen, sondern die Unruhe der Gedanken und Gefühle muss durch den von Patanjali beschriebenen Prozess aufgelöst werden.
Swami Durgananda kommntiert zu diesem Vers:
“Der Geist kann Atman reflektieren, wenn Erkenntnis vorliegt, und Erkenntnis tritt dann auf, wennd er Geist still ist.”
So kommt Patanjali immer wieder auf den Punkt zurück, dass der Geist einpünktig auszurichten ist.
Yoga Sutra, Vers 4.23
4.23 द्रष्टृदृश्योपरक्तं चित्तं सर्वार्थम्
Draṣṭṛdṛśyoparaktaṁ cittaṁ sarvārtham
draṣṭṛ = der Sehende, Erkennende, der Wahrnehmende
dṛśya = das Gesehene, Erkannte, das Wahrgenommene
ūpa = von nahe, in der Nähe, dabei
raktam = färben, angleichen
citta = Geist, Verstand, Psyche
sarva = alles, ganz, gesamt
artham = Sinn, Ziel, Zweck, Grund
“Daher ist das Geistfeld durch den Wahrnehmenden das Wahrgenommene gefärbt und hat das Potential Objekte direkt zu erfassen.”
Der Geist wird immer von seinem Umfeld gefärbt, also er nimmt die Gestalt dessen an mit dem er sich gerade beschäftigt. Unsere Wahrnehmung ist wie ein Filter der durch unsere Überzeugungen verschieden ausgerichtet wird, wir nehmen dadurch immer nur jenes war durch das wir bestätigt werden in unserem Denken.Zugleich wird aber unser Geist durch die Eliminierung des Ego auch zunehmend von der Alleinheit des Selbst gefärbt. Hier kommentiert Swami Vivekananda sehr schön:
“Von der einen Seite der Denksubstanz wird die Außenwelt, das Wahrgenommene, widergespiegelt, von der anderen der Wahrnehmende; dadurch wird die Denksubstanz aller Erkenntnis mächtig.”
Alle spirituellen Traditionen haben zum Ziel die Macht des Ego einzudämmen bzw. die Identifikation mit dem Körper-Geist-Komplex zu transformieren, also die individuelle Färbung aufzulösen. Zugleich wird unser Geist aber auch immer mehr durch den Wahrnehmenden, also unser wahres Selbst, gefärbt.
Er bezieht sich mit diesem Vers auf den Vers 41 im ersten Kapitel:
„Mir ruhigem Geist realisiert der Yogi die Einheit von Subjekt, Objekt und Wahrnehmungsprozess, und wie ein perfekter Diamant nimmt er die Farbe der Umgebung an.“
Die zentrale Idee ist, dass man den Geist transparent macht bzw. ihm die Kontrolle entzieht. Man soll den eigenen Geist als Sklaven halten und ihn nicht zum Meister machen.
Yoga Sutra, Vers 4.24
4.24 तदसङ्ख्येयवासनाभिश्चित्रमपि परार्थं संहत्यकारित्वात्
Tadasaṅkhyeyavāsanābhiścitramapi parārthaṁ saṁhatyakāritvāt
tad = der, die, das, dieses
asaṁkhyeya = unzählbar
vāsanābhiḥ = durch Programmierungen, Wünsche, Triebe
citram = mannigfaltig, wunderbar, bunt, vernehmlich
api = obgleich, auch, trotzdem, sogar
para = andere, weiter hinaus, höchstes
artham = Sinn, Ziel, Zweck, Grund
saṁhatya = Verbinden, Zusammenfügen, im Zusammenhang
kāritāt = wegen, hervorgerufen, veranlasst
“Auch wenn die unzählbaren Konditionierungen vielfältig im Geist wirken, ist sein wahrer Sinn zu Kooperieren.”
Auch bei deisem Vers sind die möglichen Übersetzungen wieder sehr vielfältig. Im Zweifelsfall orientiere ich mich dann immer am Yoga Bhsya des Vyasa, da es als älteste Übersetzung gilt. Inzwischen gehen viele Wissenschaftler davon aus, dass Patanjali selbst sein Sutra mit den Kommentaren “Bhasya” geschrieben hat.
Im Bhasya steht geschrieben, dass der Geist keinen Selbstzweck hat, sondern es einen höheren Sinn für seine Vielfalt geben muss. Diesr liegt im Erreichen des Höheren und darin, dieses anderen zu vermitteln. Und so gilt es, wie in Vers 4.32 ausgeführt, den Geist zur Kooperation zu bringen. Ihn zum Instrument für das reine Bewusstsein zu machen.
Auch hier nochmals Swami Durgananda:
“Geist und Atman sind sehr eng verstrickt, der Geist ist ein Objekt und Objekte verändern sich dauernd.”
Wenn wir lernen die Bewegungen des Geistes zu beobachten, und unserer Verstrickungen damit zu lösen, kommt der Geist zur Ruhe und das wahre Selbst kann aus sich heraus strahlen.
Yoga Sutra, Vers 4.25
4.25 विशेषदर्शिन आत्मभावभावनाविनिवृत्तिः
Viśeṣadarśina ātmabhāvabhāvanāvinivṛttiḥ
viśeṣa = Einzigartig, Unterschied, Besonders, Ausgezeichnet
darśinaḥ = einsichtig, sehend, schauend
ātma = das wahre Selbst, das reine Sein
bhāva = Ziel, Zielstrebig, fixe Idee, Wunsch
ātma-bhāva = Befreiung, Selbsterkenntnis
nivṛttiḥ = Verschwinden der Gedankenwellen
“Erkennt man den Unterschied, kommt der zweifelnde Geist zur Ruhe und man erkennt das wahre Selbst.”
Hier spielt Patanjali nochmals auf den zentralen Vers 2.26 an, wo es um die ununterbrochene Unterscheidung geht: viveka-khyāti.
Die wichtigste Praxis ist die klare Unterscheidung zwischen Prakriti und Purusha, bzw. zwischen dem Sehenden und dem Gesehenen. Je mehr wir die inneren Vorgnge losgelöst beobachten, desto weniger wird der Geist durch seine Bewegungen verhüllt.
Swami Viveka kommentiert hier:
“Durch Unterscheidung weiß der Yogin, dass der Purusha mit der Denksubstanz nicht identisch ist.”
Yoga Sutra, Vers 4.26
4.26 तदा विवेकनिम्नङ्कैवल्यप्राग्भारञ्चित्तम्
Tadā vivekanimnaṅkaivalyaprāgbhārañcittam
tadā = dann, ab dem Zeitpukt
viveka = Unterscheidungskraft, Intellekt, Trennung
nimnam = geneigt zu, hin zu, vertieft, geneigt
kaivalya = Befreiung, vollständige Isolation
prāk = Richtung, Neigung
bhāra = Gewicht, Menge, Masse
citta = Geist, Verstand, Psyche
“Dann hat der Geist Unterscheidungstiefe und steht vor der Befreiung.”
Hier wird es nochmals ganz klar: Durch die klare Trennung von Beobachter und dem was beobachtet wird, gelangen wir zur Einheit beider. Es ist wie ein paradoxes Nadelöhr durch das wir hindurch müssen, wir lösen uns von der Welt um eins mit ihr zu werden.