Die Frage ob Gott abstrakt oder konkret ist beschäftigt den Menschen seit Urzeiten. Auch im Yoga stellen wir uns diese Frage und suchen nach Antworten. Es gibt beide Ansichten, aber welche ist wahr? Sind vielleicht beide wahr?
Ist Gott nun abstrakt oder konkret? Hat Gott eine Gestalt? ist Gott gar eine Person? Wenn ja: welche Form hat er? Oder ist “er” gar eine Sie?
Die Monotheisten verbieten es, sich ein Bild von Gott zu machen. Das ist sicherlich keine schlechte Idee, denn die Inder haben diese Regel nicht. Da Gott unendlich ist und unzählige Formen annehmen kann, wird man niemals damit fertig Gott darzustellen. Das ist der Grund weshalb es im Hinduismus so viele verschiedene “Götter” gibt.
Es gibt nur einen Gott, nur ein Göttliches Prinzip, keine konkurrierenden Götter. Aber wenn Gott so viele Formen hat, ist er dann nicht formlos? Welche Eigenschaften hat Gott? Oder umfasst er alle Eigenschaften und ist damit Eigenschaftslos?
Abstrakt oder Konkret? Ein paar Antworten.
Ist Gott abstrakt oder konkret? Einige Gedanken dazu…
Transkript
Heute Morgen will ich euch kurz ein paar Sachen erzählen über die Yoga Sichtweise auf Gott. Es ist ja, wenn wir spirituelle Menschen sind, ein wichtiges Thema, dass wir uns damit beschäftigen, was Gott eigentlich ist oder was wir uns darunter vorstellen können. Denn letztendlich geht’s ja darum, dass wir uns Gott nähern bzw. dass wir erkennen, was Gott ist bzw. dass wir erfahren, was Gott tatsächlich ist. Dazu müssen wir auch ein bisschen verstehen, wo die Reise hingeht.
Es ist so, dass sich die indischen Philosophen seit Urzeiten darüber streiten, ob Gott jetzt konkret oder abstrakt ist, also ob Gott eine personenhafte oder wesenhafte Gestalt hat oder ob Gott formlos und eigenschaftslos ist. Zunächst einmal müssen wir uns überlegen: Was ist Gott? Hat Gott eine konkrete Form?
Abstrakt oder konkret: Der Glaube an einen gestalthaften Gott
Hier sehen wir Sri Krishna. Sri Krishna bedeutet wörtlich „der Schwarze“ oder „der Allanziehende“, weil er im wahrsten Sinne des Wortes attraktiv ist, anziehend. Er zieht unsere Aufmerksamkeit an sich. Er zieht unsere Liebe, unsere Hingabe an sich. Und letztlich kann man sagen, er zieht im Universum die Aufmerksamkeit, das Bewusstsein an sich, da er übergeordnet ist.
Dann haben wir die verschiedenen anderen Formen. Da vorne steht Saraswati. Saraswati ist die Göttin der Kunst, der Kreativität, der Muse und der Weisheit. Sie verkörpert einen bestimmten Aspekt Gottes. Anhänger der Göttin Saraswati sagen, Saraswati ist die eine, höchste Göttin und alle anderen sind ihr untergeordnet. Beziehungsweise sagen sie, nur Saraswati ist Gott, und alle anderen sind irgendwie Irrwege.
Oder ein anderes Beispiel ist Shiva. In Indien gibt es den großen Konflikt zwischen den Shiva-Anhängern und den Vishnu-Anhängern. Das sind die beiden großen Konfessionen, so wie bei uns die Protestanten und die Katholiken. Die Shiva-Anhänger sagen, Shiva ist der Größte, und die Vishnu-Anhänger sagen, Vishnu in seinen verschiedenen Formen ist der Größte, und der jeweils andere kann nix.
Die Shiva- und Vishnu-Anhänger streiten sich seit Jahrtausenden darüber, wer jetzt größer und mächtiger, besser, stärker und schöner ist. Das ist das Ding, wenn wir glauben, dass Gott gestalthaft ist…
Abstrakt oder konkret: Gott ist sowohl gestalthaft als auch formlos
Und Gott ist auch gestalthaft. Denn Gott ist eine Instanz, die außerhalb von uns ist, der wir uns hingeben können, zu der wir beten können, mit der wir sprechen können, die wir um Hilfe bitten können. Aber gleichzeitig ‒ und das widerspricht sich eben nicht, das ist wichtig zu verstehen ‒ ist Gott auch eigenschaftslos, formlos, namenlos und nicht greifbar.
Gott ist sowohl konkret, in den verschiedenen Formen, als auch abstrakt, jenseits aller Namen und Formen. Zunächst einmal widerspricht sich das in unserem Geist: Es muss doch Entweder-oder sein! Es kann doch nicht beides sein! Aber die Frage ist, von welchem Standpunkt aus wir das betrachten.
Man kann ja alle Dinge, vor allem philosophisch, von unterschiedlichen Standpunkten aus betrachten. Man kann die Welt als dual betrachten, also als getrennt von uns. Dass ich getrennt bin von den Erfahrungen, die ich mache, das ist die Definition des Begriffs dual in der Philosophie: Ich bin eine Instanz, die die Welt erlebt. Also bin ich von der Welt getrennt.
Wenn wir also die Welt als dual betrachten, dann ist auch Gott etwas von uns Getrenntes. Gott ist dann sozusagen das Höchste, Schönste, Beste und Wunderbarste, was wir uns in dieser Welt vorstellen können. Gott ist dann eine Kraft, eine Energie, die als ordnende Instanz im Universum wirkt.
Abstrakt oder konkret: Gott wirkt in der Evolution
Ich definiere es gerne so, dass Gott einfach eine ordnende Kraft im Universum ist. In Amerika gibt es diesen großen Konflikt zwischen den Kreationisten und den Evolutionisten, also der Frage, ob das Universum von Gott erschaffen wurde oder ob sich das Universum, wie Darwin sagte, evolutionär entwickelt hat.
Ich glaube, beides, eine Mischung daraus: Das Universum hat sich als Evolution entwickelt, wir sind irgendwann mal aus den Affen heraus entstanden. Aber dahinter steht diese ordnende Intelligenz, diese Kraft, die dafür sorgt, dass sich alles sortiert und zu einem Höheren strebt. Und das ist eben Gott. Gott wirkt in der Evolution. Schöpfung und Evolution widersprechen sich also meines Erachtens nicht, sondern beides ist richtig.
Abstrakt oder konkret: Verschiedene Rollen des einen göttlichen Prinzips
Daneben haben wir diese konkreten Formen von Gott, die wir hier sehen können: Krishna, Saraswati, Shiva. Man kann sich darüber streiten, welche dieser konkreten Formen jetzt die höchste und beste ist. Muss man aber nicht. Im integralen Yoga sagen wir, dass es einfach verschiedene Aspekte oder verschiedene Rollen des einen göttlichen Prinzips gibt.
Es gibt also nur einen Gott, aber dieser eine Gott kann sich auf vielen unterschiedlichen Weisen manifestieren. Nehmen wir als Beispiel den Narayan, der mit einem schönen blauen Pullover hier vorne sitzt. Den Narayan gibt es nur einmal, aber er hat ganz viele unterschiedliche Rollen im Leben. Zuhause ist er der Leiter eines Yogazentrums, für seine Mutter ist er immer noch der kleine, liebe Sohn, für seine Schwester ist er ‒ das ist jetzt nur eine Annahme ‒ der Taugenichts-Bruder. Heute Mittag ist Narayan vielleicht Yogaschüler oder Konsument im Bioladen. Jetzt ist er einfach nur jemand, der gerade zufällig vor meiner Nase sitzt und die Rolle eines Beispiels einnimmt.
So gibt es den Narayan nur einmal, aber er nimmt ganz viele verschiedene Rollen in seinem Leben ein ‒ so wie wir alle. Genauso ist es mit Gott: Gott gibt es nur einmal, er nimmt nur gleichzeitig ganz viele Rollen ein.
Abstrakt oder konkret: Hinter allen Formen steht das gleiche göttliche Prinzip
Für den einen ist es die Göttin Saraswati ‒ sie steht für die Kreativität, die Muse und Weisheit, die ich in mir erwecken will ‒ und für den anderen ist Gott Shiva ‒ er steht für die Transzendenz und für die Stille, die ich erreichen will. Aber es ist der gleiche Gott, es ist das gleiche göttliche Prinzip.
Das ist also diese gestalthafte, diese konkrete Form von Gott. Aber anderseits gibt es auch noch das Gestaltlose, Eigenschaftslose, Namenlose und Formlose.
Da kommen wir jetzt in den Bereich des Jnana Yoga. Jnana Yoga dreht sich um Erkenntnis, und zwar um die unmittelbare Erkenntnis der Wirklichkeit. Das Jnana Yoga sagt, dass die Idee, dass ich getrennt bin von den Erfahrungen, die ich in dieser Welt mache, eine bloße Illusion ist.
Abstrakt oder konkret: Die Sichtweise des Jnana Yoga
In dieser Illusion sind wir natürlich erst einmal alle gefangen. Aber das Ziel ist, dass wir diese falschen Vorstellungen auflösen und dahin kommen, dass wir erkennen, dass es keine Trennung gibt zwischen Subjekt und Objekt. Ziel ist, dass der Erfahrende und das, was erfahren wird, zu einer Einheit werden (und erkennen, dass sie das schon immer waren).
Diese Einheit können wir am besten als Gewahrsein oder Bewusstsein beschreiben. Mein wahres Selbst, das, was ich in Wirklichkeit bin, ist Gewahrsein. Und dieses Gewahrsein umfasst all das, was durch mich erlebt wird. Alle Erfahrungen, die so auftauchen in meinem Leben, sind also nur Ereignisse, die in mir stattfinden, in diesem allesumfassenden Bewusstsein.
Und dieses allesumfassende Bewusstsein können wir auch als Gott bezeichnen. (Das wird auch getan in der Yoga Philosophie.) Das können wir als Brahman bezeichnen. Brahman ist das universelle, eigenschaftslose, namen- und formlose Bewusstsein, das alles durchdringt und alles umfasst und alles übersteigt.
Abstrakt oder konkret: Atman, das reine Gewahrsein, das ich in Wirklichkeit bin
Dieses Brahman ist auch identisch mit Atman. Atman ist unser wahres Selbst, jenseits von Person und Biografie, jenseits von Körper, Gefühlen und Gedanken. Atman ist das reine Gewahrsam, was ich in Wirklichkeit bin. Atman ist das, wo ich hinkomme, wenn ich die Ebene des Persönlichen, des Dualen übersteige und erkenne, dass ich das schon immer war und dass es nur das geben kann.
Dieses formlose Göttliche, dieses Atman, da gibt es nur eins, und das ist absolut identisch in mir und in dir. Denn es umfasst alles. Das, was ich in Wirklichkeit bin, ist Gewahrsein, ist göttliches Gewahrsein. Man kann sogar sagen: Das, was ich in Wirklichkeit bin, ist identisch mit Gott. Aber das birgt natürlich die Gefahr, dass ich überheblich werde und mir etwas darauf einbilde. Aber genau das soll es ja nicht.
Nicht der Typ, der hier vorne sitzt, nicht der Narada mit seiner Biografie und seinen Gedanken ist Gott, sondern ‒ jenseits von seinen individuellen Gedanken, jenseits seines Körpers und seiner Gefühle ‒ da ist diese Instanz von Bewusstsein, von Gewahrsein, die unveränderlich ist, die unberührt ist von den Erfahrungen, die allesumfassend ist ‒ und die ist identisch mit Gott.
Ist Gott abstrakt oder konkret? Beides ist richtig!
Also ist beides richtig: Außerhalb von uns ist Gott gestalthaft. Wenn wir in der dualen Perspektive leben und erkennen, dann können wir uns Gott hingeben, uns vor ihm verneigen und zu ihm beten. Aber gleichzeitig ist Gott ‒ aus einer nondualen Perspektive ‒ formlos und identisch mit dem, was ich in Wirklichkeit bin.
Und da gibt es eben diesen Konflikt, weil man meint, man müsse sich entscheiden, ob man jetzt die eine philosophische Sichtweise oder die andere einnehmen möchte. Aber ich glaube, das muss man gar nicht. So sagt es auch die Yoga Philosophie.
Wir müssen uns nur bewusst darüber sein, dass es verschiedene Perspektiven auf das Leben gibt, und dann auch flexibel darin sein, welche Perspektive wir gerade einnehmen und aus welcher Perspektive wir gerade sprechen. Dann können wir da auch genauer differenzieren.
Abstrakt oder konkret: Sich klar sein über die Perspektive, aus der man gerade spricht
Wir sollten die Perspektiven allerdings nicht zu sehr vermischen, je nach Lust und Laune, sondern klar darin sein, ob wir gerade aus der absoluten Perspektive (Da ist alles eins, da gibt es keine Probleme und alles hat seinen Sinn) oder aus der dualen Perspektive sprechen (Da ist natürlich alles begrenzt und unser Leben ist geprägt von Leiden und Mangel. Das lässt sich auch nicht wegdiskutieren, das ist eben ein Aspekt der dualen Perspektive).
Wenn wir uns als getrennt von der Welt erleben, dann erleben wir uns auch als getrennt von all den Dingen, die wir gerne hätten. Dann impliziert das eben auch, dass wir Mangel haben.
Wechseln wir die Perspektive hin zu dieser absoluten Sicht, löst sich auch jeglicher Mangel auf. Denn wenn wir eins sind mit allem, dann sind wir immer absolute Fülle, absoluter Reichtum, absolute Glückseligkeit. Dann gibt es nichts zu suchen, dann gibt es nur noch Finden.