In diesem Abschnitt des Yoga Sutra beschreibt Patanjali wie man die Sinne beherrschen kann und was daraus folgt. Unser Geist ist darauf konditioniert, ständig den Sinneseindrücken zu folgen, Patanjali sagt, dass man diese Programmierung auflösen kann und auf diese Weise das reine Bewusstsein entfaltet. Wenn die Psyche nicht mehr ständig zwischen Gedanken, Gefühlen und Sinnen hin und her springt, öffnet sich eine neue Dimension des Seins.
Patanjali Yoga Sutra, Vers 3.48
3.48 ग्रहणस्वरूपास्मितावयार्थवत्त्वसंयमातिन्द्रिय जयः
grahaṇa-svarūpa-asmitā-avaya-arthavattva-saṁyamāt-indriya jayaḥ
grahaṇa = wahrnehmen, halten, greifen
svarūpa = eigene Form, wahre Natur
asmitā = Egoismus, Selbstsucht, Ichbezogenheit
anvaya = Abfolge, Nachfolge, Zusammenhang
arthavattva = Zweckdienlichkeit, Bedeutsamkeit
saṁyama = tiefe Versenkung, Fesselung, Ausrichtung
indriya = Vermögen, Kraft, Sinnesorgane
jayaḥ = Sieg, Herrschaft, Gewinn, Meisterschaft, Kontrolle
“Meisterung der Sinnesorgane kommt durch Samyama auf den Zusammenhang zwischen der eigenen Form, der Wahrnehmung und Ich-Bewußtsein.”
Meisterung der Sinne bedeutet einerseits, dass wir uns nicht von den Sinneseindrücken ablenken lassen, insbesondere in der Meditation, und andererseits, dass wir die Sinnesorgane besser nutzen können, also unsere Wahrnehmung verfeinern. Bei dieser Anleitung geht es darum, den Prozess des Wahrnehmens genaustens zu beobachten, also:
- wie wird wahrgenommen? -grahana
- wer nimmt wahr? -svarupa
- wie reagiert der Geist auf die Wahrnehmung? -asmita
Eine ganz ähnliche Methode ist das analysieren des Geistes anhand des Modells der 4 Teile des Geistes “Antahkarana“, bei dem auch genau beobachtet wird wie die Wahrnehmung geschieht.
Patanjali Yoga Sutra, Vers 3.49
3.49 ततो मनोजवित्वं विकरणभावः प्रधानजयश्च
tato mano-javitvaṁ vikaraṇa-bhāvaḥ pradhāna-jayaś-ca
tataḥ = daher, davon
mano = Geist, Psyche, Sinn, Denken
javitvaṁ = Schnelligkeit, Zügig
vikaraṇa = Einwirken, Werkzeuge, Sinnesorgane
bhāvaḥ = Befreiung, sein, existieren, Unabhängigkeit
pradhāna = Hauptsache, Urmaterie, Schöpfung
jaya = Sieg, Herrschaft, Gewinn, Meisterschaft, Kontrolle
ca = und, auch
“Dadurch wird der Geist schnell, Erkenntnis geschieht ohne Sinne und man beherrscht den die Schöpfung.”
Wir lösen uns also durch die Methode aus Vers 3.48 von der Bindung an unsere Sinnesorgane und bekommen Wissen ohne wahrnehmen zu müssen, sozusagen unmittelbar. Wenn der Geist sich von den Ketten seiner Wahrnehmungsorgane gelöst hat, wird er fähig seine höheren Sinne zu nutzen und Erkenntnisse zu gewinnen. Das bedeutet, man wächst über die gewöhnliche Ebene der Schöpfung und der Eigenschaften hinaus und erreicht Turya, das eigenschaftslose Vierte. Man hat die Schöpfung transzendiert und das Bewusstsein expandiert ins Unbeschreibliche. Die Sinne beherrschen ist eine Forderung Patanjalis, die wir bereits aus Kontext des Pratyahara kennen. Durch Pratyahara kann man seine Sinne von äußeren Einflüssen fernhalten und sich stattdessen mehr auf innere Gedanken und Emotionen konzentrieren. Mit der Fähigkeit, die Sinne zu beherrschen, wird es leichter, das eigene Verhalten zu steuern, Schmerz und Leid zu überwinden und Qualitäten wie Geduld und Gelassenheit mit in den Alltag aufzunehmen.
Hier endet mein Kommentar zu den Versen 48 & 49 des Vibhuti Pada im Yoga Sutra des Patanjali.

Kartik Swami Mandir