Patanjali beschreibt in diesem Abschnitt des Vibhuti Pada seines Yoga Sutra, wie wir durch die Nicht-Anhaftung bzw. innerer Entsagung zur Freiheit kommen. Er hat in den bisherigen schon mehrfach über Vairagya gesprochen, die Losgelöstheit von den Erfahrungen. Hier betont er, dass es auch bei den höchsten spirituellen Erfahrungen entscheidend ist die Verhaftungen mit dem was beobachtet werden kann zu lösen. Um die Einheit zu erkennen müssen wir das Subjekt von den Objekten lösen.
Patanjali Yoga Sutra, Vers 3.50
3.50 सत्त्वपुरुषान्यताख्यातिमात्रस्य सर्वभावाधिष्ठातृत्वं सर्वज्ञातृत्वं च
sattva-puruṣa-anyatā-khyātimātrasya sarva-bhāvā-adhiṣṭhātṛtvaṁ sarva-jñātṛtvaṁ ca
sattva = Reinheit, Sein, klar, Göttlich (eines der Gunas)
puruṣa = Bewusstsein, Mensch, Seele, wahres Selbst
anyata = Verschiedenheit, Unterschied
khyātiḥ = Erkenntnis, Begreifen, Einsicht
mātrasya = nur daraus, nur
sarva = alle, alles, ganz
bhāva = Gefühle, Emotionen, sein, existieren, Seins zustände
adhiṣṭhāṭṛtvaṁ = Vorherrschaft, Beherrschung, Allmacht
jñātṛṭva = Weisheit, Wissender, Gewissheit
ca = und
“Erkenntnis des Unterschieds zwischen der Göttlichen Reinheit und der wahren Seele bringt Herrschaft über alle Existenz und alles Wissen.”
Dieser Vers ist wieder ein schönes Beispiel für die Unzulänglichkeit unserer Sprache, wenn es um Bewusstsein und Spiritualität geht. Viele Begriffe aus dem Sanskrit lassen sich nicht direkt in unsere Sprache übersetzen und so können wir mit verschiedenen Worten nur die wahre Bedeutung der Sanskrit Worte einkreisen. Es geht um Sattwa und Purusha, beides sind komplexe Begriffe, die wir nur mangelhaft verstehen können, wenn wir sie übersetzen. Die Samkhyaphilosophie befasst sich mit den beiden Begriffen und hilft klarer zu verstehen, worum es geht. Jedenfalls ist es von entscheidender Wichtigkeit, die Reinheit und Klarheit unterscheiden zu können von unserem wahren Selbst. Wir sind nichts, was durch uns beobachtet werden kann, sondern wir sind das, was beobachtet. Wir sind nicht das erhabene Gefühl, das Licht, die Energie, die Segenskraft, sondern wir nehmen sie wahr. Wir sind Subjekt, nicht Objekt. Indem wir den Objekten innerlich entsagen, gelangen wir zur Freiheit.
Patanjali Yoga Sutra, Vers 3.51
3.51 तद्वैराग्यादपि दोषबीजक्षये कैवल्यम्
tad-vairāgyād-api doṣa-bīja-kṣaye kaivalyam
tad = er, sie, es, dies,da, dahin, damals, auf diese Weise
vairāgyat = Verhaftungslosigkeit, Gelassenheit, Nicht-anhaften, Los-gelöstheit
api = sogar, auch, selbst
doṣa = Unreinheit, Dunkelheit, Mangel, Fehler, Disbalancen
bīja = Same, Keim Grundlage
kṣaye = Zerstörung, Verlust, Untergang
kaivalyam = Befreiung, Erleuchtung, absolute Glückseligkeit
“Gleichmut sogar gegenüber diesem und die Zerstörung des Keims der Unreinheit sind führt zur absoluten Glückseligkeit.”
Sogar die Herrschaft über alles Existierende und das vollkommene Wissen sind Hindernisse für die absolute Befreiung, da sie eine Identifikation erzeugen können. Bereits im allerersten Abschnitt des Yoga Sutra warnt Patanjali vor den Fallen auf dem Weg zur Freiheit:
1.4. vṛtti sārūpyam-itaratra
„In anderen Zuständen ist der Geist mit seinen Bewegungen identifiziert.“
Wenn wir nicht im wahren Selbst ruhen, sind wir verwickelt im Netz der Illusionen. Wir können nicht in die absolute Einheit und Glückseligkeit tauchen, wenn wir identifiziert sind mit Objekten unserer Wahrnehmung. Also auch Allmacht und Allwissenheit kann eine Falle sein. Es gibt zwar immer wieder Geschichten von Meistern, die ihre besonderen Fähigkeiten zeigen, jedoch warnen sie zugleich davor. Im Idealfall sind sie innerlich entsagt.
Patanjali Yoga Sutra, Vers 3.52
3.52 स्थान्युपनिमन्त्रणे सङ्गस्मयाकरणं पुनरनिष्टप्रसङ्गात्
sthāny-upa-nimantraṇe saṅga-smaya-akaraṇaṁ punar-aniṣṭa-prasaṅgāt
sthāni = himmlisches Wesen, außerphysische Entität, deva, etabliert,
upanimantraṇe = eingeladen, einladen,
saṅga = Anhaften, Anhaftung, Kontakt
smaya = Stolz, Hochmut, Staunen, Gefallen
akaraṇaṁ = er soll vermeiden, nicht annehmen, kunstlos, natürlich
punaḥ = wieder, von neuem, noch einmal
aniṣṭa = unerwünscht, unangenehm, schädlich, schlecht
prasaṇgāt = aus dem Kontakt, Eintritt eines Falles, Gegeben sein , Neigung
“Einladungen von himmlischen Wesen bergen die Gefahr des Hochmutes und des Entstehens neuer Verhaftungen.”
Im Yoga gehen wir davon aus, dass das gesamte Universum belebt ist und die Welt sozusagen voll ist von Wesen, die nicht von jedem wahrgenommen werden können. In astralen oder feinstofflichen Ebenen sind unterschiedlichste Wesenheiten, gute und schlechte, und wir stehen bewusst oder unbewusst im Kontakt mit diesen. Wenn wir uns durch unser Denken und Fühlen negativ ausrichten, ziehen wir entsprechende Kräfte an, ebenso hohlen wir positive Kräfte in unsere Welt, wenn wir auf die Liebe ausrichten. Jedoch ist der Kontakt mit solch hoch schwingenden lichtvollen Wesen mit Vorsicht zu genießen, zum einen führt es schnell zu Hochmut bzw. Überheblichkeit, und zum anderen lässt es uns leicht anhaften an die tollen Erfahrungen. Natürlich fühlt sich das Ego (Ahamkara- der Teil von uns der sich mit sich selbst identifiziert) geschmeichelt, wenn Engel und aufgestiegene Meister zu ihm sprechen, und natürlich hebt es uns etwas ab von den anderen. Es kann hilfreich sein solcherlei Kontakte mit himmlischen Wesen zu nutzen, ich selbst gehe hin und wieder zu einem Medium, jedoch ist es nur ein Hilfsmittel auf dem Weg zum Ziel.
Soweit mein Kommentar zu den Versen 50-52 im Vibhuti Pada des Yoga Sutra.