Der nun folgende Abschnitt des Patanjali Yoga Sutra umfasst das Ende des 2. Kapitels (Sadhana Pada) und den Beginn des 3. Kapitels (Vibhuti Pada), und er kann durchaus als “5. Kapitel” bezeichnet werden, weil er sehr aus dem Rest des Yoga Sutra heraussticht. Manche Indologen nehmen sogar an dieser Teil sei im Nachhinein noch hinzugefügt worden.
Heute gilt dieser Teil, in dem das Ashtanga oder die Acht Glieder des Raja Yoga besprochen werden, für viele als der wichtigste Teil des Yoga Sutra und wird sogar häufig auf dieses Modell reduziert. In den folgenden drei Versen wird das Thema zunächst eingeleitet und dann schrittweise genau beschrieben.
Patanjali Yoga Sutra 2.27
2.27 तस्य सप्तधा प्रान्तभूमिः प्रज्ञ
tasya saptadhā prānta-bhūmiḥ prajña
saptadhā = siebenfältig, siebenfach
prānta = Pfad, Weg, Grenzpfad, Kante
bhūmiḥ = Stufe, Stadium
prajñā = Erkenntnis, erkennendes Bewusstsein
Der Weg zum erkennenden Bewusstsein geht über sieben Stadien.oder“Dieser Pfad zur Erkenntnis hat sieben Stufen.”
- Wissen was zu wissen ist.
- Was verworfen werden muss, wurde verworfen.
- Das Erreichbare wurde erreicht.
- Was getan werden musste wurde getan.
- Das zu erreichende Ziel wurde erreicht.
- Bewusstsein ist von allen Eigenschaften gelöst.
- Selbststrahlendes Bewusstsein wurde erkannt.
Solche Auflistungen sind nicht als Checkliste gedacht, da die Entwicklung bei jedem Yogi anders verläuft. Es ist bloß eine Orientierung. Entscheidend sind aus meiner Sicht die ersten beiden Stufen, nämlich 1. das Erkennen des eigenen Weges, bzw. das sehen der Wichtigkeit zu Unterscheiden und sich auf den Weg zu machen. Und 2. sich von allem zu lösen was für die Entwicklung des Bewusstseins hinderlich ist. Sicherlich ist die Intention Patanjalis unklar, zumal Vyasas Kommentare etwa 500 Jahre später verfasst wurden. Wenn er von Sieben Stufen bis zur Achten im Ashtanga System gesprochen hat, würde das sicher auch Sinn machen, wobei ich nicht denke, dass das Ashtanga ein Stufensystem ist.
Patanjali Yoga Sutra 2.28
yoga-aṅga-anuṣṭhānād-aśuddhi-kṣaye jñāna-dīptir-āviveka-khyāteḥ
anuṣṭhānād = Übung, Praxis, Umsetzung
aśuddhi = Unreinheit
kṣaye = überwinden, reduzieren, zerstören
jñāna = Wissen, Weisheit, Erkenntnis
dīptiḥ = leuchten, strahlen, Licht
ā = endlos, unbegrenzt
viveka-khyāteh = ununterbrochenes wahrnehmen der Wirklichkeit
“Übung der Yogaglieder führt zur Überwindung von Unreinheiten, strahlender Weisheit und fortwährender Unterscheidungskraft.”oder“Durch das Ausüben der Glieder des Yoga werden Schlacken geklärt und es leuchtet das Wissen der stetigen Unterscheidung.”
Bevor Patanjali nun also seine Acht Glieder oder Teile des Raja Yoga aufzählt, preist er nochmals die Vorzüge seines konkreten Modells an. Da wir das Selbst oder der Purusha bereits sind, geht es im Yoga darum, die Unreinheiten aufzulösen um das strahlende Innere zu entfalten. Denn unser natürlicher Zustand (nisarga) enthält die Einsicht und das höchste Wissen. Tatsächlich sind diese drei Punkte für jeden Yoga Übenden sehr bald zu erfahren:
- aśuddhi-kṣaye Die Reinigung der verschiedenen Ebenen unseres Körper-Geist Systems ist deutlich spürbarer und essentieller Teil des ganzen Yoga Systems. Da wir davon ausgehen als höchstes Ziel unseren natürlichen Zustand zu erreichen, müssen wir nur Unreinheiten klären.
- jñāna-dīptir Das erstrahlen der inneren Weisheit geschieht durch das Üben des ganzheitlichen Yoga nebenbei. Das ganze Leben und der komplette Alltag wird von Grund auf harmonisch zurecht gerückt und tiefe Erkenntnisse kommen und gehen.
- āviveka-khyāteḥ Nach und nach erwacht das stetige Handeln mit dem Bewusstsein der Wahrheit oder die unbegrenzte Unterscheidung, die jenseits des Intellekts liegt und mühelos all unser Sein transformiert.
Hier können wir also sehr gut an uns selbst feststellen, wie genau Patanjali den Yoga Weg beschrieben hat. Wichtig ist eben nur, dass wir die einzelnen Glieder des Yoga im rechten Sinne verstehen und umsetzen.
Patanjali Yoga Sutra 2.29
2.29 यम नियमासन प्राणायाम प्रत्याहार धारणा ध्यान समाधयोऽष्टावङ्गानि
yama niyama-āsana prāṇāyāma pratyāhāra dhāraṇā dhyāna samādhayo-‘ṣṭāvaṅgāni
yama = “äussere Regel”, ethisch-moralische Regeln, Empfehlungen im Umgang mit anderen
niyama = “Innere Regel”, Empfehlungen im Umgang mit Dir selbst
āsana = Körper-Haltung, Sitz, Körperbeherrschung
prāṇāyāma = Atembeherrschung, Kontrolle der Lebensenergie
pratyāhāra = Zurückziehen der Sinne, Beherrschung der Sinne
dhāraṇā = Konzentration, Ausrichten der strahlen des Geistes
dhyāna = Versenkung, Meditation, Kontemplation
samādhayaḥ = Ekstase, Trance, überbewusster Zustand
aṣṭa = acht
aṅgāni = Glieder
“Achtung gegenüber Deinen Mitmenschen und gegenüber Dir selbst, Körperbeherrschung, Kontrolle der lebensenergie, Sinnesbeherrschung, Konzentration, Meditation und Ekstase, sind die Acht Glieder.”
oder
“Gutes Miteinander, eigene Beschränkungen, Körpertellungen, Atembeherrschung, Sinnesrückzug, Konzentration, tiefe Versenkung und höhere Bewusstseinszustände bilden die acht Teile des Yoga.”
Glieder oder Stufen? Das ist hier die große Frage! Ich denke das beides richtig ist, also sowohl ein paralleles Üben des Achtfachen Yoga, als auch ein orientieren an den Acht Gliedern als System der Fortentwicklung. Wir können also besonderen Wert auf die ersten Punkte Yamas und Niyamas legen um eine Basis für den weiteren Weg zu schaffen, und wir können versuchen sie 8 Punkte zugleich zu üben um uns ganzheitlich zu entwickeln. Im weiteren Verlauf der Sutras haben die einzelnen Punkte des Ashtanga eine unterschiedliche Wertigkeit in Form der Menge an Kommentaren, was sicherlich auf die wichtigkeit der Basis zum einen und die notwendigkeit eines kompetenten Lehrers bei den höreren Stufen andererseits zurückzuführen ist. Hier die Acht Punkte mit kurzer Beschreibung.
- Yamas (das Verhältnis zur Umwelt)
Der Umgang mit unseren Mitmenschen hat einen hohen Stellenwert im Yoga. - Niyamas (das Verhältnis zu sich Selbst)
Die Weise wie wir mit uns selbst umgehen ist ausschlaggebend für unsere Entwicklung. - Asana (die Körperhaltung)
Vorraussetzung für das tiefe nach innen gehen ist die stabile und bequeme Haltung. - Pranayama (die Energiekontrolle)
Über den Atem hat man Zugang zur Lebensenergie und kann beides beruhigen. - Pratyahara (das Zurückziehen der Sinne)
Die Aufmerksamkeit geht ganz nach innen und die Sinneswahrnehmungen gehen mit. - Dharana (die Konzentration)
Schrittweise lernen wir den Geist auf einen Punkt auszurichten. - Dhyana (die Meditation/Verbindung)
Die Versenkung in den Fluss der Aufmerksamkeit im Hier und Jetzt. - Samadhi (die Verschmelzung)
Die Überwindung des Alltagsbewusstseins hinein in eine neue Dimension des Seins.
Soweit mein Kommentar zu den Versen 27-29 des Sadhana Pada des Patanjali Yoga Sutra, mit einigen Ausführungen zum Ashtanga und den Stufen oder Gliedern auf dem Weg.