In diesem Abschnitt der Verse 9-15 spricht Patanjali darüber wie man durch Einpünktigkeit in höhere Bewusstseins-Ebenen eintauchen kann, also Dharana ist die Voraussetzung um durch Dhyana zu Samadhi zu gelangen. Oder anders gesagt: Wenn wir fähig sind unseren Geist ganz auf eine Sache bzw einen Punkt auszurichten, können wir in den Zustand der Meditation hinein fallen und von dort aus sozusagen in Samadhi erhoben werden. Zu üben ist also das klare Ausrichten des Geistes auf eines, dies wird in allen Yoga Richtungen auf verschiedene Weisen geübt.
Vers 9 des Vibhuti Pada im Yoga Sutra des Patanjali
3.9 व्युत्थाननिरोधसंस्कारयोः अभिभवप्रादुर्भावौ निरोधक्षण चित्तान्वयो निरोधपरिणामः
vyutthāna-nirodha-saṁskārayoḥ abhibhava-prādurbhāvau nirodhakṣaṇa cittānvayo nirodha-pariṇāmaḥ
vyutthāna = Nachgeben, Sprunghaftigkeit, Wachsen, Pflichtversäumnis
nirodha = Ruhe, Stille, Beherrschung, Kontrolle, Verdrängung
saṁskārayoḥ = Prägung, Eindruck
abhibhava = Überwindung, Hinzukommen, Verschwinden, Überwältigung
prāduḥbhāvau = Zum Vorschein kommen, Erscheinung, Auftauchen
kṣaṇa = Situation, Augenblick, Moment
citta = Denken, Bewusstsein, Verstand, Geist
anvaya = Verbindung, Zusammenhang
pariṇāmaḥ = Wandel, Veränderung, Umwandlung
“Es kommt eine Unabhängigkeit vom kommen und gehen der Gedanken Impulse und somit eine Kontrolle über den Geist die Stille mit sich bringt.”
oder
“Werden die wechselhaften Eindrücke Beherrscht, fügen sich Momente der Ruhe im Geist ein.”
Schrittweise kommt man durch die Praxis des Ashtanga, insbesondere der Samyama Methoden als 6.-8. Stufe, in eine Kontrolle über die wechselhaften Gedankenwellen (Vritti) und deren Gewohnheiten (Samskara) im Geist (Chitta). Es entsteht mit der Zeit “Nirodha-Parinama”, der stetige Wandel des Geistes hin zur Ruhe, bzw. eine Verlagerung des Fukus auf die zugrundeliegende Stille statt auf die veränderlichen Impulse im Geiste.
Patanjali spricht in diesen Versen von den drei Arten des Wandels bzw. Formen des transformativen Wandels, die er mit Parinama bezeichnet, diese sind als Stufen zu verstehen:
- nirodha-pariṇāmaḥ, Vers 9
- samādhi-pariṇāmaḥ, Vers 11
- ekāgratā-pariṇāmaḥ, Vers12
Es ist jeweils der Übergang zum nächsten Antaranga, also von Dharana zu Dhyana zu Samadhi und dann zum Nirbija Samadhi welches Patanjali hier mit den drei Parinamas beschreibt.
Vers 3.10, Patanjali Yoga Sutra
3.10 तस्य प्रशान्तवाहिता संस्कारत्
tasya praśānta-vāhitā saṁskārat
tasya = sein, dessen, der, die, das
praśānta = ruhig, gleichmütig, gleichgültig, ungestört
vāhitā = Strom, Fluss
saṁskāra = Prägung, Eindruck, Programm
“Durch die wiederholte Übung wird der Übergang zur Ruhe fliessend.”
oder
“Die neue Gewohnheit wird ruhig fliessen.”
Im laufe der Zeit wird man seinen Geist umwandeln bzw. umprogrammieren und es entstehen neue Muster die hilfreicher sind und die einem dabei helfen ganz mühelos in diese Stille einzutauchen und aus dieser heraus zu schöpfen. Wir schaffen durch wiederholung von Gedanken die Samskaras, die tiefen Eindrücke im geist bzw.unsere Programmierungen. Die tägliche Praxis von Yoga, Meditation und Achtsamkeit schafft neue Gewohnheiten und es wird immer leichter die Konzentration aufrecht zu erhalten. Wir werden also mit den neu zu schaffenden Gewohnheiten stabiler in unserer Mitte ruhen und aus einer meditativen und bedächtigen Grundhaltung heraus handeln.
Vers 3.11, Patanjali Yoga Sutra
3.11 सर्वार्थता एकाग्रातयोः क्षयोदयौ चित्तस्य समाधिपरिणामः
sarvārthatā ekāgrātayoḥ kṣayodayau cittasya samādhi-pariṇāmaḥ
sarva = alles, ganz, vieles
artha = Ziel, Zweck, Grund, bezogen auf
ekāgratā = Einpünktigkeit, Ausrichtung auf eines
kṣaya = absteigen, verminderung, abnehmen, aufhören
udaya = aufsteigen, zunehmen, hervortreten, zunehmend
citta = Geist, Bewusstsein, Denken
samādhi = überbewusster Zustand, Vereinigung
pariṇāmaḥ = Wandel, Veränderung, Umwandlung
“Wenn wir uns auf einen Punkt ausrichten und aufhören sprunghaft zu sein, kann die Transformation zum Samadhi geschehen.”
oder
“Wenn wir uns weniger ablenken lassen und fähig sind den Geist auszurichten kommt der Übergang zu einem höheren Bewusstsein.”
Immer wieder wird im Yoga betont wie wichtig es ist den Geist zu trainieren und dem normalen Auf und Ab der Gedanken nicht ständig zu folgen. Es liegt in der Natur des menschlichen Geistes ständig Gedankenimpulse zu produzieren, die Qualität dieser ist abhängig von unseren Erfahrungen und Prioritäten in der Vergangenheit. Wenn wir lernen diese Impulse zu beobachten und stattdessen den Geist auf eines fokussieren, schaffen wir mehr Raum für unsere Intuition und höhere Zustände im Bewusstsein.
Vers 3.12, Patanjali Yoga Sutra
3.12 ततः पुनः शातोदितौ तुल्यप्रत्ययौ चित्तस्यैकाग्रतापरिणामः
tataḥ punaḥ śātoditau tulya-pratyayau cittasya-ikāgratā-pariṇāmaḥ
tataḥ = dann, der, die, das
punaḥ = wieder, von neuem, nochmal
śāntā = beruhigt, erloschen, aufgelöst, sich beruhigt
uditau = aufkommen, aufgestiegen, aufgegangen
tulya = genau gleich, gleichartig, ähnlich
pratyayau = Wahrnehmung, Vorstellung, Eindrücke
cittasya = des Verstandes, Geist, Bewusstsein
ekāgratā = Einpünktigkeit, Ausrichtung
pariṇāmaḥ = Wandlung, Entwicklung zu, Veränderung
“Die Einpünktigkeit tritt ein, wenn der Geist beim kommen und gehen der Gedankenimpulse in Balance bleibt.”
oder
“Wenn die aufsteigenden und vergehenden Eindrücke sich ausgleichen kommt die Ausrichtung.”
Wie gesagt kommen und gehen ständig Eindrücke im Geist, es ist zunächst unsere Gewohnheit sprunghaft diesen Impulsen zu folgen und die beobachtende Haltung zu verlieren. Wenn wir uns ganz und gar auf das Objekt ausrichten und die aufsteigenden und vergehenden Eindrücke im Geist daran nichts ändern, ist eine Ausgewogenheit des Geistes da und der Nährboden für tiefere Erfahrungen gegeben.
Vers 3.13, Patanjali Yoga Sutra
3.13 एतेन भूतेन्द्रियेषु धर्मलक्षणावस्था परिणामा व्याख्याताः
etena bhūtendriyeṣu dharma-lakṣaṇa-avasthā pariṇāmā vyākhyātāḥ
etena = durch dieses, so, auf diese Weise
bhūtā = die Elemente, werden sein, die Materie
indriyeṣu = Sinnesorgane, Vermögen, Kraft
dharma = Aufgabe, Beschaffenheit, Gesetz, Regel, Religion
lakṣaṇā = Attribut, Zeichen, Merkmal
avasthāḥ = Situation, Zustand, Art und Weise
pariṇāma = Wandlung, Umwandlung, Veränderung,
vyākhyā = Erklärung, Beschreibung, Kommentar
“Dadurch werden Veränderungen in Form, Zeit und Zustand der Elemente in den Sinnesorganen erklärt.”
oder
“Auf diese Weise wird der Wandel der Aufgaben, der Merkmale und der Zustände von Materie innerhalb der Wahrnehmung deutlich.”
Es wird also unsere Wahrnehmung eine andere wenn wir nicht mehr im auf und ab der Gedankenimpulse feststecken, sondern die Fähigkeit entwickeln unabhängig von unserem Denken und Fühlen ein Objekt zu betrachten. Oder anders gesagt: wir setzen durch diese Einpünktigkeit unsere Brille des persönlichen Blickwinkels ab und können die Dinge so betrachten wie sie sind, wir lösen unsere Subjektivität auf.
Vers 3.14, Patanjali Yoga Sutra
3.14 शानोदिताव्यपदेश्यधर्मानुपाती धर्मी
śān-odita-avyapadeśya-dharmānupātī dharmī
śānta = Beruhigt, Abgeklungen, Nachgelassen, Vergangen
udita = Aufgekommen, Aufsteigen, Manifestierte
avyapadeśya = Unnennbar, Unmanifeste, nicht definierbar
dharma = Aufgabe, Beschaffenheit, Gesetz, Regel, Religion
anupātī = basierend auf, folgend, aufeinander bezogen,
dharmī = Rechtschaffend, Pflicht befolgend, auch Substanz
“Eine Instanz ist trotz aller Veränderungen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft konstant.”
oder
“Es gibt eine Essenz die unabhängig von vergangenem, aufkommendem und undefinierbarem unwandelbar ist.”
Diese eine Instanz ist natürlich das wahre Selbst welches unberührt ist von allen Veränderungen bzw von allem was beobachtet werden kann.
Vers 3.15, Patanjali Yoga Sutra
3.15 क्रमान्यत्वं परिणामान्यतेवे हेतुः
kramānyatvaṁ pariṇāmānyateve hetuḥ
krama = Schritt, Abfolge, Gang, Verlauf
anyatvaṁ = Unterschied, Verschiedenheit
pariṇāma = Wandlung, Entwicklung, Veränderung zu
hetu = Veranlassung, Mittel, Ursache
“Die Naturgesetze sind Ursache für alle Wandlungen.”
oder
“Je nach Verlauf geschehen andere Veränderungen.”
Alles was geschieht ist Teil der kosmischen Ordnung und folgt den Gesetzmäßigkeiten. Nichts im Kosmos passiert ohne Teil des Ursache-Wirkungs Kreislaufes zu sein und es liegen allem die Naturgesetze zugrunde, auch wenn wir es nicht verstehen. Es werden all die subtilen Vorgänge im inneren beobachtet um sich mit dem bewussten Sein immer mehr dem wahren Selbst, dem Substratum zu nähern. Es geht letztendlich immer nur um das Eine: das Selbst zu erkennen!
Soweit mein Kommentar zu den Versen 9-15 des Vibhuti Pada im Yoga Sutra des Patanjali.