Je mehr ich mich mit dem Yoga Sutra befasse, desto größere Erfurcht habe ich vor dem epischen Werk des großen Patanjali. Jeder einzelne der 196 Verse enthält eine tiefe Botschaft.
In Indien sagt man:
Der Verfasser eines Sutra freut sich mehr über die Kürzung des Textes um eine Silbe, als über die Geburt des ersten Sohnes.
Und so wurden die Sutratexte (zum Vergleich das Narada Bhakti Sutra) durch ihre Autoren immer weiter reduziert auf das wesentliche. Beim studieren der Texte entfalten sich dann die verschiedenen Bedeutungsebenen der einzelnen Verse. In diesem Abschnitt des Yoga Sutra geht es um Unsichtbarkeit und ein Verstehen des Karma.
Vers 21 des Vibhuti Pada, Patanjali Yoga Sutra
3.21 कायरूपसंयमात् तत्ग्राह्यशक्तिस्तम्भे चक्षुः प्रकाशासंप्रयोगेऽन्तर्धानम्
kāya-rūpa-saṁyamāt tat-grāhyaśakti-stambhe cakṣuḥ prakāśāsaṁprayoge-‘ntardhānam
kāya = Leib, Körper
rūpa = Form, Gestalt, Wesen
saṁyamāt = durch/ aus Samyama
tat = er, sie, es, dies, da, dahin, damals, auf diese Weise
grāhya = ergreifen, erfassen, wahrnehmbar
śakti = Kraft, Können, Fähigkeit
stambhe = Behinderung, starr werdend, Kräftigung, Unterstützung
cakṣuḥ = Auge
prakāśa = Licht, Helle, hell, leuchtend
asaṁprayoge = nicht verbindung, keine Verbindung, nicht treffend
antardhānam = Verschwinden, Unsichtbarkeit
“Durch Samyama auf die Körperform wird man unsichtbar, die Kraft wahrgenommen zu werden wird gehemmt und die Verbindung von Licht und Auge erlischt.”
Also wenn wir uns versenken auf die Form unseres eigenen Körpers, werden wir zunehmend unsichtbar. Bei diesen Versen ist wieder zu beachten, dass es die drei Abstufungen des Samyama gibt, also Dharana, Dhyana und Samadhi. Wenn wir uns in der meditativen Übung in einen überbewussten Zustand versetzen können, also Samadhi erfahren, können wir diese Samyamatechnik bis zur unsichtbarkeit bringen. Wenn wir aber nur eine hohe Konzentration haben, also Dharana, werden wir einfach in Gesellschaft weniger sichtbar. Dazu gibt Sukadev ein schönes Beispiel: Stell dir vor, du bist frustrierter Single und auf einer Cocktailparty wartest du darauf angesprochen zu werden. Deine Gedanken kreisen nur um dich selbst: wie sehe ich aus? Habe ich die richtigen Klamotten angezogen? usw. usf., dadurch schotten wir uns sozusagen energetisch von unserer Umwelt ab. Wohingegen wenn wir unseren Geist nach aussen richten und andere Freundlich anschauen, öffnen wir uns für eine Begegnung und sind sichtbar. So können wir zB gut einer Polizeikontrolle entgehen: statt zu denken “ohmeingott! sie werden mich durchsuchen, sie schauen mich schon so kritisch an!” können wir einfach unsere Konzetration auf unseren Körper richten und ziehen die Aufmerksamkeit nicht auf uns. 😉
An dieser Stelle wird in vielen Fassungen des Yoga Sutra der folgende Vers 3.22 eingefügt, jedoch ncht in allen. ich habe mich entschieden diesen mit einzubauen und ihn auch in die weitere Auflistung genommen. Die meisten mir vorliegenden Übersetzungen& Kommentare haben diesen Vers mit aufgeführt. Neben diesem Vers 3.22 ist auch noch an der Stelle 3.20 ein Vers der in manchen Fassungen dabei ist und in anderen nicht. Den Vers 3.20 habe ich auch mit in die weitere Auflistung genommen, da er meistens verwendet wird.
Vers 3.22, Patanjali Yoga Sutra
3.22 Etena shabdâdy antardhânam uktam
Etena = durch dieses;
shabdâdy = Ton/ Klang und andere
antardhânam = Verschwinden
uktam = wurde gesagt, beschrieben, erläutert
“Hierdurch lässt sich das Verschwinden von Klängen und anderem erklären.”
So wird eben Vers 3.21 nicht nur auf das unsichtbar werden bezogen, sondern auch auf das nicht-wahrnehmen von anderen physikalischen Phänomenen. Je mehr man sich auf sich selbst konzetriert, desto weniger wird man von anderen wahrgenommen. Im umkehrschluss: Je mehr unser Geist nach aussen geht, desto mehr aufmerksamkeit zieht man auf sich.
Der folgenden ist also also Vers 23 wie bei z.B. Sukadev, Swami Vishnu-Devananda, Iyengar, Swami Jnaneshwara und Swami Vivekananda, deren Auflistung der Verse ich hier folge. Bei Chapple, Wikibooks, Steiner & Sriram ist dies der 22. Vers. Hier geht die Auflistung dann wie bei ersteren weiter, leider lässt sich also ab dieser Stelle eine Verwirrung mit den Versen kaum vermeiden…
Vers 3.23, Patanjali Yoga Sutra
3.23 सोपक्रमं निरुपक्रमं च कर्म तत्संयमातपरान्तज्ञानम् अरिष्टेभ्यो वा
sopa-kramaṁ nirupa-kramaṁ ca karma tatsaṁyamāt-aparāntajñānam ariṣṭebhyo vā
sopakramaṁ = wozu man etwas tut, nachvollziehbar, unterstützt, vorhersehbar
nirupakramaṁ = nicht auf dem Ablauf basierend, anfangslos, unvorhersehbar, nicht nachvollziehbar
ca = auch, und
karma = Tat, Handlung, Ursache oder Wirkung einer Handlung
tat = dies, der die das
saṁyamāt = Fesselung, durch Versenkung auf, Zusammenbinden
aparānta = “an der westlichen Grenze”, Tod, Ende
jñāna = Wissen, Erkenntnis
ariṣṭa = vollkommen, sicher, unversehrt
ibhya = sein
vā = oder
“Durch Ausrichtung auf Ursache- und Wirkungsbeziehungen entsteht Wissen über das Schicksal.”
oder
“Wirkungen der Handlungen kommen direkt oder verzögert, durch Samyama auf diese wird Kenntnis über das Schiksal erreicht.”
Wenn wir uns genau auf die Verbindung zwischen Ursache und Wirkung ausrichten, können wir die Wirkweise des Schicksals genauer verstehen. Also wenn wir Samyama auf die Kausalketten hinter unserem Erleben ausrichten, können wir erahnen wie es weitergeht, es ergibt sich also aus dem bisherigen Verlauf der Dinge eine Einsicht in die Ereignisse in der Zukunft. So hat beispielsweise Swami Sivananda seinen Todestag lange vorher rot im Kalender angestrichen, er konnte sicherlich damit umgehen, aber tatsächlich ist diese Praxis nicht für jeden geeignet.
- Don`t try this at home!
Soweit meine Kommentare zu den Versen 21-23 des 3. Kapitels im Yoga Sutra des Patanjali.