Das Kaivalya Pada genannte 4. Kapitel des Yoga Sutra erweist sich mir bei meinem Projekt als komplexester Teil der vier Kapitel von Patanjalis Machwerk. Tatsächlich werden sehr tiefsinnige Inhalte in diesem Kapitel vermittelt die sich nicht einfach verstehen lassen.
Patanjali bezieht sich mit diesen beiden Versen immer noch auf die Verse 4.9 ff mit denen er Samskaras und Smritis erläutert. Hier geht es insbesondere um die Auswirkungen der Gunas auf das Bewusstsein und die Welt der Erscheinungen.
Yoga Sutra Vers 4.13
4.13 ते व्यक्तसूक्ष्मा गुणात्मानः
Te vyaktasūkṣmā guṇātmānaḥ
te = sie, diese, der, die, das
vyakta = herausgeputzt, manifestiert, offensichtlich, offenbar, wahrnehmbar
sūkṣmāḥ = subtil, fein, schmall, dünn, unmanifestiert
guṇa = Wirkkräfte, Eigenschaften der Natur, Faden
atmānaḥ = das Selbst, Bewusstsein, Seele
“Sie (Samskaras und Smritis) sind wahrnehmbar oder subtil in der Guna Natur.”
Vyasa kommentiert zu diesem Vers, dass die Samskaras und Smritis in der Gegenwart wahrnehmbar sind und in der Vergangenheit und Zukunft nur subtil bzw. unmanifest existieren. Die Samskaras und Smritis werden durch die Gunas bzw. durch sie bestimmt manifest erlebbar gemacht in der Gegenwart. Das ganze Universum existiert durch und als die Gunas, nichts ist unberührt von den drei Wirkkräften ausser das reine Bewusstsein. Und so werden auch die Samskaras und Smritis durch die Gunas dominiert. Also die Art wie wir uns in der Gegenwart von der Vergangenheit beeinflussen lassen, hängt von unserem Denken und Fühlen ab, denn sie wird durch die Natur der Gunas bedingt.
Yoga Sutra Vers 4.14
4.14 परिणामैकत्वाद्वस्तुतत्त्वम्
Pariṇāmaikatvādvastutattvam
pariṇāma = Wandlung, Veränderung
ekatvāt = einzigartig, infolge der Einzigkartigkeit
vastu = Ding, Gegenstand, Objekt
tattvam = Essenz, Wesen, Wirklichkeit, Besonderheit
“Durch die Entwicklung zum Wesentlichen erkennt man die wahre Natur der Erscheinungen.”
Auch dieser Vers lässt sich je nach Interpretation sehr unterschiedlich übersetzen, da es wieder nur aneinander gereihte Substantive sind. Im Kontext der letzten Verse scheint mir diese Deutung plausibel, denn er fasst nochmals zusammen worauf Patanjali hinaus will: wenn wir unsere Filter ablegen können wir die Wirklichkeit unmittelbar erkennen. Im Alltagsbewusstsein ist unser Bewusstsein durch unsere Überzeugungen getrübt und die Wahrnehmung wird gefiltert, insbesondere durch die Allmacht der Gunas.Aus diesem Vers lässt sich auch ableiten, dass alle Erscheinungen stets dem Wandel unterlegen sind, also jedes Objekt sich durch die Gunas verändert.
Sukadev führt in seinem Kommentar zu diesem Vers eine interessante Verbindung zur Physik ein:
“Ein Objekt besteht nur aus einem bestimmten Mischungsverhältnis von Gunas. Aus der Sicht der Physik kann man sagen: In gewisser Weise bestehen alle Elemente nur aus Elektronen, Neutronen, Protonen. Die Elektronen sind rajas, sie bewegen sich ständig. Die Protonen sind irgendwie tamas, sie führen zur Träg-heit. Die Neutronen sind sattwa, sie gleichen irgendwie aus. Und aus diesen drei sind alle Elemente ge-schaffen. Der Unterschied zwischen Gold, Eisen, Blei, Zink, Sauerstoff besteht nur aus einer Anordnung von Elektronen, Neutronen und Protonen.”