Dukham ist einer der zentralen Begriffe in Patanjalis Text, darin sieht man den Einfluss des Buddhismus auf ihn. Nachdem Patanjali in den ersten Versen des 2. Kapitels seines Yoga Sutra über Kriya Yoga, die Kleshas und das Karma gesprochen hat, führt er nun aus, wie man sich aus dem leidvollen Sein lösen kann. Letztlich geht es darum, die Identifikation mit dem Wahrnehmnbaren aufzugeben, und sich ganz auf das Subjekt bzw. das wahre Selbst ausrichten zu können. An sonnsten sind wir eben mit der Welt verstrickt und können nicht Erkennen was jenseits davon liegt: Die Wahrheit.
duḥkham sarvaṁ vivekinaḥ
Patanjali Yoga Sutra 2.15
2.15 परिणाम ताप संस्कार दुःखैः गुणवृत्तिविरोधाच्च दुःखमेव सर्वं विवेकिनः
pariṇāma tāpa saṁskāra duḥkhaiḥ guṇa-vṛtti-virodhācca duḥkham-eva sarvaṁ vivekinaḥ
tāpas = Sehnsucht, Verlangen, Leiden, Hitze, Schmerz
saṁskāra = Prägungen, Neigungen, Eindruck, Erziehung, Programmierung
guṇa = Eigenschaft, Wirkkräfte der Natur
vṛtti = Welle, Gedankenwellen, Vorurteil, Modifikation der Psyche
virodhā = Widerspruch, Konflikt, feindseeliges Auftreten
ca = und
duḥkham = Schmerz, Leid, Unbehagen, Schwer, nicht Leicht
eva = nur, eben
sarvaṁ = alles, überall, immer, ganz
vivekinaḥ = für den Unterscheidungsfähigen, Weisen, Intelligenten
“Weise wissen, dass im Leben durch Wandlung, Sehnsucht, Prägung sowie die Wirkkräfte der Natur die im Widerspruch zu eigenen Wünschen stehen, Leid entsteht.”oder“Für den Unterscheidenden ist alles Leidvoll, bedingt durch Veränderung, nicht existentes, den Eindrücken und dem unerwünschten Wirken der Eigenschaften.”
Dieser Vers wird oft verkürzt zitiert als “duḥkham sarvaṁ vivekinaḥ“, also “der Weise sieht das Leid in allem”. Zugegebener Maßen klingt dieser Vers zunächst mal sehr pessimistisch, daher ist es wichtig den Begriff des “Dukham” im rechten Lichte zu verstehen. Es ist mit Leiden gemeint, dass das Leben immer ein Auf und Ab ist, ein ständiges Wechselbad von positiven und negativen Erlebnissen. Dieses, im Gegensatz zur höchsten Freude, die aus dem wahren Selbst heraus besteht, ist eben leidvoll. Solange wir uns nicht auf das Selbst bzw. die höchste Wirklichkeit ausrichten, sind wir wie ein Spielball zwischen den gegensätzlichen Kräften, wir erhoffen uns Stabilität durch die vergänglichen Dinge dieser Welt und verlieren uns in Äusserlichkeiten.
Swami Vivekananda sagt in seinem Kommentar zu diesem Vers:
“Nur wenn man diese Welt aufgibt, wird man die andere Welt gewinnen, niemals durch festhalten.”
Also das ist kein Aufruf, sich in die Höhle oder ins Kloster zurück zu ziehen, sondern eben “Viveka” zu entwickeln, die Unterscheidungskraft. Wenn wir lernen zu unterscheiden zwischen wahr/ unwahr, wirklich/ unwirklich sowie selbst/ nicht-selbst, werden wir uns von der leidvollen Natur des Seins lösen und die allem zugrundeliegende Wahrheit erkennen. Auch hier sehen wir wieder Patanjalis engen Bezug zum Buddhismus, hier sind es natürlich wieder die edlen vier Wahrheiten die im Zusammenhang stehen, wie im Vers 2.4 erläutert. Die erste lautet “Alles bedingte Sein ist Leidvoll”, also der Weise erkennt eben dies. Als Ursachen für das Leid führt er hier nun nach den Kleshas noch vier weitere Punkte auf einer anderen Ebene ein:
- pariṇāma wir können uns an nichts Wahrnehmbarem festhalten.
- tāpas wir sehnen uns nach etwas nicht vorhandenem und leiden darunter.
- saṁskāra wir haben tief sitzende Prägungen die unser Sein bestimmen.
- guṇa die Wirkkräfte der Natur stehen entgegen unseren Wünschen.
Patanjali Yoga Sutra 2.16
2.16 हेयं दुःखमनागतम्
heyaṁ duḥkham-anāgatam
heyam = zu vermeiden, lassen
duḥkham = Leid, Elend, Schmerz, Unbehagen
anāgatam = noch nicht eingetreten, Zukünftig, bevorstehend
“Zukünftiges Leiden sollte man vermeiden.”
oder
“Unmanifestes Leid lässt sich verhindern.”
- vergangenes Karma haben wir schon erledigt
- gegenwärtiges Karma gilt es noch zu erleben und Lektionen daraus zu ziehen
- zukünftiges Karma muss nicht zum Tragen kommen, wenn wir es vermeiden
In Vers 2.12 ging es um die 3 Arten des Karma, hier geht es konkret um Agami Karma, also jenes welches wir gerade für die Zukunft schaffen. Durch achtsames und selbstloses Handeln können wir negative Auswirkungen unseres Karma entgegenwirken. Es gilt sein Schiksal in die Hand zu nehmen und dafür zu sorgen, dass die Zukunft nicht mehr leidvoll ist. In jedem Moment säen wir Samen der Handlungen, die in Zukunft als Früchte der Erfahrungen geerntet werden. Und so ist es für den Yogi von höchster Wichtigkeit, seine Zukunft zunächst positiv zu gestalten und dann sein Karma aufzulösen. Dieser Vers kann uns immer wieder als Erinnerung dienen, kein neues leidvolles Karma durch selbstbezogenes Handeln aus der Unwissenheit (bzw. nicht-Unterscheidung) heraus aufzubauen.
Patanjali Yoga Sutra 2.17
draṣṭṛ-dṛśyayoḥ saṁyogo heyahetuḥ
dṛśyaḥ = das Gesehene, Erfahrene, Sichtbare
saṁyoga = Vereinigung, Verbindung, Zusammenhang
heya = was vermieden werden soll, lassen, meiden
hetuḥ = Ursache, Mittel
“Die Verbindung des wahren Selbst mit dem Veränderbaren ist die Ursache für Karma.”oder
“Die Identifikation des Subjekts mit dem Objekt ist die Leidensursache und soll vermieden werden.”
Dieses ist eines der grundlegenden Probleme auf dem spirituellen Weg: Das Selbst hat sich in einem Körper mit verschiedenen Funktionen manifestiert und nun haben sich die einzelnen Teile des Werkzeuges miteinander identifiziert, dadurch kennen sie nicht mehr ihre wahre Natur als reines Bewusstsein. In diesem Vers wird Patanjalis Nähe zur Samkhya-Philosophie deutlich. Samkhya bedeutet “Aufzählung” und es ist ein dualistisches philosophisches Konzept wo zwischen zwei Polen unterschieden wird, wie bereits in 1.45 beschrieben:
Prusha = das absolute Bewusstsein, die Urseele, der ewige, metaphysische Weltgeist, der unveränderlich ist, das kosmische Selbst, Subjekt.
und
Prakriti = die Natur, das Benennbare, sich Manifestierende, das Wahrnehmbare, das ursächliche Entstehen, ursprung der Materie, Objekt
Wenn die Verstrickungen innerhalb der Prakriti stark sind, kann der Purusha nicht innerhalb der Prakriti erfahren werden. Je mehr wir uns durch Unterscheidungskraft von der Prakiti lösen, desto mehr kann das Licht des Purusha durch uns scheinen. Durch den Prozess der Meditation wollen wir uns durch das Ausrichten auf einen Punkt aus diesen Verstrickungen und Identifikationen lösen. Swami Vishnu Devananda kommentiert:
“Wenn sich ein Mensch mit dieser illusorischen Welt identifiziert, herrscht das Ego vor, er handelt ohne Weisheit und läd neues Karma auf.”
In der Samkhya Sichtweise (aus der auch das Vedanta historisch entstanden ist) steht der Intellekt dem Purusha innerhalb der Prakriti am nächsten, daher ist es so wichtig wie oben beschrieben intellektuell zu unterscheiden. Die folgenschwere Identifikation mit der wandelbaren Welt lässt sich durch die Erkenntnis bzw. die vorhergehende Unterscheidung auflösen. Immer wenn “der Sehende”, “Wahrnehmende”, “Zeuge” nicht mit den wandelbaren Objekten verbunden ist, gibt es die höchste Freiheit. Schicht für Schicht lösen wir durch Meditation bzw. Disidentifikation die Verbindungen auf, und befreien das Selbst im inneren von seinen Schatten. Im Sankhya-System geht es letztlich darum durch die Dualität, welche unsere Erfahrungsebene ist, zu einer Nondualen Sicht zu kommen wo Subjekt (Purusha) und Objekt (Prakriti) eins sind. Im Vedanta hingegen gehen wir direkt von dieser Einheit aus und wir benutzen die trennung (zB negation des Nicht-Selbst) nur als eine Methode. Im Vers sagt Patanjali, dass es um das Auflösen der Verbindung (der Sehende und das Wandelbare) geht, was also eher dem Samkya entspricht. Obwohl wir nun wissen, dass wir vom absoluten aus gesehen eins mit allem sind und es keine Trennung Subjekt- Objekt gibt, nutzen wir hier die Methode des aktiven sich Lösens von den Objekten.
Soweit meine Kommentare zu den Versen 15-17 des Sadhana Pada im Patanjali Yoga Sutra.