In diesem Abschnitt des 4. Kapitels spricht Patanjali über den Geist und seine Beziehung zum Absoluten. Immer wieder wird in den verschiedenen Standpunkten der Yogaphilosophie diese Beziehung beleuchtet.
Das wahre Selbst ist die beobachtende Instanz im inneren. Sie wird im Samkhya als Purusha bezeichnet, im Vedanta als Atman und im Tantra als Shiva. Irrtümlicher Weise sind wir mit dem Wahrnehmbaren identifiziert, wir glauben Körper und Geist zu sein, dabei ist es nur unser vorübergehendes Werkzeug. Es ist nicht der Geist der sich erleuchtet, sondern das Bewusstsein leuchtet wenn der Geist durchlässig geworden ist.
Yoga Sutra, Vers 4.18
4.18 सदा ज्ञाताश्चित्तवृत्तयस्तत्प्रभोः पुरुषस्यापरिणामित्वात्
Sadā jñātāścittavṛttayastatprabhoḥ puruṣasyāpariṇāmitvāt
sadā = immer, allezeit, jederzeit
jñātāḥ = bekannt
citta = Verstand, Geist, Psyche, Denken
vṛttayaḥ = Gedanken, Gedankenwellen, Geistesimpulse, Modifikationen
tat-prabhoḥ = von seinem Herrn, hervorragend
puruṣasya = des Selbst, Bewusstsein, das Göttliche
aparināmitvāt = Unveränderlichkeit, gleichbleibend
“Das wahre Bewusstsein ist ewig unveränderlich, es nimmt die Impulse im Geist wahr.”
Wie im Rahmen meiner Kommentare zum Yoga Sutra bereits mehrfach erläutert, liegt der Philosophie Patanjalis die Lehre des Samkhya zu Grunde. Die Samkhya-Philosophie ist eine duale und sogar atheistische Sichtweise in der zwischen dem reinen Bewusstsein “Purusha” und dem Wahrgenommenen “Prakriti” unterschieden wird. Patanjali erweitert diese Lehre noch um die Konzepte von “Ishvara” und “Viveka Khyati”, also dem höchsten Ideal wie z.B. Gott und der ununterbrochenen Unterscheidung als Praxis. In diesem Vers spricht Patanjali über Purusha als dem beobachtenden Bewusstsein welches Prakriti als beobachtetes Objekt wahrnimmt. Aus dem Standpunkt des reinen Bewusstseins ist jede Erfahrung im Geist nur ein Objekt welches kommt und geht. Im Gegensatz zum Advaita Vedanta gibt es im Samkhya die Trennung von diesen beiden Ebenen, denn im Advaita gibt es nur das Eine.
Yoga Sutra, Vers 4.19
4.19 न तत्स्वाभासं दृश्यत्वात्
Na tatsvābhāsaṁ dṛśyatvāt
na = nicht
tat = dessen, der, die , das
svā = selbst, eigen
bhāsa = erleuchtend, leuchtend, glänzend, strahlend, erkennend
svā-bhāsam = selbst erleuchtend, selbst strahlend, selbst erkennend
dṛśyatvāt = Wahrnehmbarkeit, anzublicken, ein wahrnehmbares Objekt
“Der Geist ist nicht selbst-erleuchtend, da er wahrnehmbar ist.”
Der Geist wird durch die Instanz des Beobachters wahrgenommen, wir können den Beobachter unterschiedlich betiteln:
- Samkhya und Yoga (nach Patanjali) benennt es als Purusha
- Tantra nennt es Shiva
- Advaita Vedanta spricht vom Brahman
In diesen Lehren geht es immer letztendlich darum dieses neutrale beobachtende Gewahrsein zu kultivieren bzw. dann zu erkennen. Der Geist bzw. die Psyche ist als ein Objekt von diesem Gewahrsein wahrnehmbar. Ziel des Yoga ist, je nach Definition, das Erkennen der Einheit bzw. das Eintreten in die Erfahrung des Eins-Sein. Das beobachtende Gewahrsein gilt es als allumfassende Instanz zu erkennen bzw. mit diesem eins zu werden. Wir müssen also nicht den Geist erleuchten bzw. zu Heiligen werden, sondern lernen innere und äußere Vorgänge wohlwollend und neutral zu beobachten und uns nicht mehr mit Erfahrungen zu identifizieren.
Yoga Sutra, Vers 4.20
4.20 एकसमये चोभयानवधारणम्
Ekasamaye cobhayānavadhāraṇam
eka = eins, einer, einzig, einzeln
samaye = Situation, Augenblick, Zusammentreffen
ca = und
ubhaya = beide
an = nicht
avadhāraṇaṁ = ergreifen, erfassen, begreifen, bestimmen
“Es ist nicht beides zugleich erfassbar.” oder “Es kann nicht zweierlei zugleich erfasst werden.”
Wir können nicht die duale Perspektive einnehmen und zugleich das nonduale erkennen. Um die Einheit allen Seins zu erkennen, müssen wir gänzlich das duale loslassen. So wird auch in der Bibel gesagt:
“Niemand kann zwei Herren dienen: entweder er wird den einen hassen und den andern lieben, oder er wird dem einen anhängen und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.”
Erst wenn wir gänzlich die irdische Welt loslassen wird sich die Wahrheit vor uns öffnen. Oder wie man in Amerika sagt:
“You can’t have your cake and eat it, too!”
Yoga Sutra, Vers 4.21
4.21 चित्तान्तरदृश्ये बुद्धिबुद्धेरतिप्रसङ्गः स्मृतिसङ्करश्च
Cittāntaradṛśye buddhibuddheratiprasaṅgaḥ smṛtisaṅkaraśca
citta = Geist, Psyche, Denksubstanz, Unbewusstes
antara = andere, innen, angrenzend, nahe
dṛśye = gesehen durch, sichtbar, anzublicken
buddhi = Verstand, Intellekt, Unterscheidung
atiprasaṅgaḥ = unstimmige Verbindung, Überflüssigkeit, ad absurdum führen
smṛti = Erinnerung, Gedächtnis
saṁkaraḥ = Verwirrung, Vermischung, Vermengung
ca = und
“Würde ein Geist einen anderen Geist wahrnehmen, dann gäbe es die Absurdität von Wahrnehmung der Wahrnehmung sowie eine Verwirrung der Erinnerung.”
Dieser Vers kann sehr unterschiedlich interpretiert werden:
- Es geht darum, dass der Geist des einen nicht den Geist eines anderen wahrnehmen kann und soll. Zwar gibt uns Patanjali in seinem 3. Kapitel auch Methoden zum Gedankenlesen, jedoch führt das mit Sicherheit zu großer Verwirrung. Es kann zwar der Geist eines anderen erahnt werden, jedoch nicht vollkommen erkannt.
- Es geht um die Beziehung zwischen Chitta und Buddhi, also zwischen dem individuellen Geist und der inneren Instanz des Verstandes. So stehen auch diese beiden Begriffe im Sanskrit-Original. Chitta ist das Geistfeld und Buddhi die Unterscheidungskraft, beide werden durch das wahre Selbst wahrgenommen. Auf dem Weg zum wahren Selbst unterliegen wir des öfteren der Illusion wir könnten das Selbst wahrnehmen bzw. wie ein gewöhnliches Objekt beobachten, aber das ist nicht möglich.
- Es geht um das kleine, begrenzte, relative und duale Ich auf der einen Seite und das allumfassende, unbegrenzte, absolute und nonduale Selbst auf der anderen. Das Selbst kann sich nicht selbst wahrnehmen und das “Ich” nimmt nicht selbst wahr sondern ist nur ein Filter der vor das “Selbst” geschoben ist. Das “Ich” ist mit sich selbst, seinen Überzeugungen und Gedanken identifiziert und daher verzerrt es die unmittelbare Erfahrung der Wirklichkeit.