In den folgenden drei Versen gibt Patanjali in seinem Yoga Sutra ein wunderbares Werkzeug zur Selbstanalyse.
Durch die 4 Symptome erkennen wir wenn wir feststecken und können dann anhand der neun Hindernisse sehen wo wir stecken. Anschliessend nennt er die Lösung zur Überwindung der Hindernisse. Ein sehr hilfreicher Abschnitt für die Meditation.
Yogaa Sutra Samadhi Pada, Vers 1.30, Hindernisse
1.30. व्याधि स्त्यान संशय प्रमादालस्याविरति भ्रान्तिदर्शनालब्धभूमिकत्वानवस्थितत्वानि चित्तविक्षेपाः ते अन्तरायाः
vyādhi styāna saṁśaya pramāda-ālasya-avirati bhrāntidarśana-alabdha-bhūmikatva-anavasthitatvāni citta-vikṣepāḥ te antarāyāḥ
vyâdhi = Krankheit, körperliche Einschränkung
styâna = Stumpfsinn, Teilnahmslosigkeit, geistige Trägheit
samshaya = Zweifel, Zögern, Unentschlossenheit
pramâdâ = Arroganz, Nachlässigkeit, Gleichgültigkeit
âlasya = Trägheit, Faulheit
avirati = Haften an Dingen, Abgelenktheit
bhrânti–darshana = Verblendung, Fanatismus, irrtümliche Ansicht
alabdha–bhûmikatva = Nichterreichen einer Stufe, fehlende Zielstrebigkeit
ana-vasthitatvâni = Unstetigkeit, Unbeständigkeit
chitta = Verstand, Geist, Antahkarana
vikshepas = Zerstreuungen, Trübung, Unruhe
te = sie
antarâyâh = Hindernisse
“Die Hindernisse auf dem Weg zur Klarheit sind Krankheit, Trägheit, Zweifel, Gleichgültigkeit, Faulheit, Verlangen nach Vergnügen, Täuschung, die Unfähigkeit zur Konzentration und Ruhelosigkeit des Geistes.”
oder
“Die Hindernisse welche den Geist trüben sind: körperliche Einschränkung, Stumpfsinn, Zweifel, Arroganz, Faulheit, Abgelenktheit, Fanatismus, mangelnde Zielstrebigkeit, Unbeständigkeit.”
Patanjali zählt im Yoga Sutra neun Hindernisse auf, die uns auf dem spirituellen Weg ausbremsen. Wenn wir uns dafür entscheiden uns vom Weltlichen Abzukehren und uns Ausrichten auf die Selbsterkenntnis, wirken diametrale Kräfte in uns. Wir streben nach oben zum Licht, aber es gibt auch Kräfte in uns, die nach unten zur Dunkelheit streben. Diese Kräfte erzeugen Reibung und dadurch Hindernisse. Ein Teil von uns will gerne in den gewohnten Mustern bleiben und wehrt sich gegen die Bewusstwerdung. Es ist das Ego und das damit verbundene unterbewusste welches Angst hat vor der Veränderung. Die Erfahrung dieser vielen Hindernisse ist eine normale Begleiterscheinung auf dem Weg. Sie werden zwar mit der Zeit deutlicher, werden sich aber immer wieder versuchen in den Weg stellen. Es gilt Gleichmut zu entwickeln und durch die Hindernisse hindurch zu gehen.
Ich werde die Hindernisse im einzelnen nochmal am Beispiel der Meditation Erläutern:
- vyādhi = Körperliche Einschränkungen wie Rückenschmerzen, Knieprobleme, Juckreiz oder ähnliches, lassen unseren Geist nicht in Ruhe und lenken unseren Fokus immerwieder weg vom Objekt der Meditation. Mit der Zeit gewöhnt sich aber der Körper an die Sitzhaltung und wir entwickeln ein anderes Körperbewusstsein.
- styāna = Teilnahmslosigkeit und Desinteresse breiten sich gerne im Geist aus während der Meditation. Wir wissen zwar wie gut uns die Praxis tut und möchten gerne daran Arbeiten den Geist zu klären, jedoch fallen wir desöfteren in diese Trägheit.
- saṁśaya = Es liegt in der Natur unseres Geistes, ständig neue Ideen und Impulse zu produzieren. Wenn wir uns nicht davon lösen haben unsere gedanken macht über uns. Wir lassen uns auf unproduktive Gedanken ein und zweifeln am Sinn der Übung.
- pramāda = Der Gleichmut den es zu entwickeln gilt, kann schnell in Gleichgültigkeit umschlagen. Wir verlieren das Interesse an der Meditation und schweifen innerlich ab. Mit der Zeit werden wir gefestigt in der Praxis und werden nachlässig, es gilt den sog. “Anfängergeist” zu bewahren.
- ālasya = Unser Geist neigt zu Trägheit und Faulheit, oft fehlt es uns an Enthusiasmus um uns zu Fokussieren, weil es langweilig Erscheint. Mit der Zeit lösen wir uns von der Trägheit, und entwickeln die Energie die es braucht, um sich im inneren ganz auf die Stille einzulassen.
- avirati = Wir sind es gewohnt mit unserer Aufmerksamkeit bei den Sinnesobjekten zu sein. Wir indentifizieren uns mit Dingen die wir wahrnehmen. So strebt auch der Geist in der Meditation nach aussen und ist dadurch abgelenkt.
- bhrāntidarśana = Wenn wir uns gedanklich in unsere Ansichten reinsteigern, und unsere Überzeugungen engstirnig werden, verlieren wir die Offenheit und Erwartungslosigkeit die es für die Meditation braucht. Selbstverwirklichung geht einher mit dem Loslassen aller Konzepte!
- alabdha-bhūmikatva = Meditation ist letztlich eine Lebenseinstellung, ein Lebensweg. Das Ziel ist im Grunde nebensächlich, entscheidend ist, sich auf den Weg Auszurichten. Wenn wir hohe Erwartungen haben, blockieren sie unsere Offenheit und werden frustriert, weil wir sie nicht erreichen.
- anavasthitatvāni = Wir kommen nur vorran wenn wir beständig üben. Unregelmässigkeit wirft uns immer wieder zurück in der tiefe unserer Erfahrung. Die Meditation führt nur tiefer, wenn wir sie täglich üben und in der Meditation Achtsam bleiben.
1.31, Patanjali Yoga Sutra
1.31. दुःखदौर्मनस्याङ्गमेजयत्वश्वासप्रश्वासाः विक्षेप सहभुवः
duḥkha-daurmanasya-aṅgamejayatva-śvāsapraśvāsāḥ vikṣepa sahabhuvaḥ
duhkha = Schmerz, Leiden
daurmanasya = Verzweiflung, Depression, Trübsinn
angamejayatva = Unruhe des Körpers, Nervosität
shvasa–prasvasah = Ein-und Ausatmung, schweres Atmen
vikshepa = Zerstreuung, Unruhe, Trübung
sahabhuvah = Begleiterscheinung, Symptome
“Schmerz, Verzweiflung, Unruhe und unreglmäßige Atmung sind die Symptome dieses verwirrten Geisteszustandes.”
oder
“Leid, Depression, Nervosität, unruhige Atmung ergeben sich aus dieser Zerstreuung.”
Diese vier von Patanjali genannten Punkte sind die Indikatoren für ein Feststecken in diesen Hindernissen. Sie ergeben sich dann sozusagen aus den neun Hindernissen. Die vier Indikatoren sind deutlicher Wahrzunehmen als die Hindernisse selbst, die viel subtiler sind. So sind diese Symptome auch eher bei anderen zu Beobachten, als die zugrundeliegenden Hindernisse. Leid, Verzweiflung, Unruhe und unreglmäßige Atmung sind ganz klare anzeichen dafür, nicht in der Klarheit zu sein, sondern irendwo festzustecken. In diesen beiden Versen 30 und 31 gibt uns Patanjali also ein wunderbares Werkzeug um uns selbst auf dem Weg zu Prüfen. Leiden wir unter den gegenwärtigen Umständen? Verzweifeln wir an der Übung? Erfahren wir eine Unruhe in Körper und Geist? Beobachten wir eine unruhige Atmung? Wenn eines Zutrifft, können wir tiefer schauen und überlegen, ob wir womöglich in einem der Neun Hindernisse stecken. Oder sogar auch in mehreren gleichzeitig. Indem wir verstehen was geschieht, und uns unseren momentanen Zustand ganz bewusst machen, kommen wir zur Klarheit. Der Volksmund lehrt: “Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zu Besserung!” , und so kann sich ein Problem schnell auflösen, wenn wir es erkannt haben. “Gefahr erkannt, Gefahr gebannt!”
1.32, Patanjali Yoga Sutra
1.32. तत्प्रतिषेधार्थमेकतत्त्वाभ्यासः
tat-pratiṣedha-artham-eka-tattva-abhyāsaḥ
tat = das, deren
pratishedhartam = zur Beseitigung, zur Kontrolle
eka = einem
tattva = Prinzip, Thema, Wahrheit, Aspekt
abhyasah = beharrliche Übung, Anstrengung, dabeibleiben
“Zur Beseitigung (der 9 Hindernisse und deren 4 Symptome) sollte man sich auf ein Ziel ausrichten.”
oder
“Um diese zu vermindern, reicht die Praxis eines Aspektes der Wahrheit.”
“eka-tattva-abhyāsaḥ”, die einpünktige Ausrichtung ist die Lösung um durch die Hindernisse und deren Symptome hindurch zur Klarheit zu kommen. Es gibt viele Möglichkeiten, worauf wir diese Einpünktigkeit ausrichten. Wir werden immerwieder abgelenkt von unserem Weg. Beispielsweise gibt es immerwieder Erfahrungen in der Meditation die unsere Aufmerksamkeit ablenken. Das klare Gegenmittel ist das Zielgerichtete Streben, das Fokussieren eines Aspektes, eines Themas, einer Wahrheit, eines Prinzips um so durch die Symptome und Hindernisse zu kommen. Wir sind versucht die Erfahrungen die wir machen immer genau zu Analysieren und zu Verstehen, also die Steine die uns im Wege liegen detailliert zu erfassen. Jedoch gilt es sie nicht weiter zu beachten und zentriert zu bleiben. Die Vorraussetzung hierzu ist natürlich das Üben von Meditation. Nur wenn wir uns von den Gedanken und Gefühlen lösen können, sind wir fähig die Hindernisse und Symptome transparent werden zu lassen und uns einpünktig auszurichten. Ohne Meditation keine Geisteskontrolle. Zuvor (in Vers 28) hat er ja bereits eine Ideale Technik vorgestellt, um diese Einpünktigkeit zu entwickeln: Die Ausrichtung auf den Klang des Om, bzw. allgemein auf ein Mantra. Und dies gleichzeitig mit der Empfehlung zur Kontrolle des Geistes: Abhyasa und Vairagya, also “Gib niemals auf!” und “lasse geschehen!”, oder “Sein und Werden!” In den nächsten Versen gibt er dann noch verschiedene Hilfsmittel und Techniken.
Soweit mein Kommentar zu den Versen 30-32 des Patanjali Yoga Sutra.