Ein Gleichnis ist hilfreich, um abstrakte philosophische Inhalte besser verstehen zu können. Inspiriert durch Swami Sivanandas Buch „Vedanta for Beginners“ möchte ich hier die wichtigsten Gleichnisse des Advaita Vedanta auflisten und in den Zusammenhang stellen. Durch diese Art von Gleichnissen lässt sich der Gehalt der Lehre nicht nur gut erfassen, sondern auch besser merken. Daher waren solche Bilder schon immer ein gutes Mittel, um Weisheiten weiterzugeben. So können die abstrakten Weisheiten bildlich vermittelt werden.
Das Gleichnis als Lehrmethode: Barmherziger Samariter
Auch im Christentum finden wir viele Gleichnisse, mit denen die Lehren verdeutlicht wurden. So kennt man zum Beispiel das Gleichnis vom barmherzigen Samariter: Es handelt von einem Mann, der von Räubern überfallen und schwer verletzt am Straßenrand zurückgelassen wird. Drei Personen passieren den Mann, aber keiner von ihnen hilft ihm. Schließlich kommt ein Samariter vorbei, der in jüdischen Augen als ein “Fremder” und religiöser Außenseiter galt. Der Samariter zeigt Mitleid und kümmert sich um den Verletzten, indem er seine Wunden reinigt und ihn in eine Herberge bringt. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter ist eine Geschichte über Nächstenliebe und Mitgefühl. Es lehrt uns, dass das Wesen einer wahren Spiritualität darin besteht, Mitgefühl und Liebe zu unseren Mitmenschen zu zeigen, unabhängig von ihrer Herkunft, Religion oder sozialen Stellung. Es fordert uns auf, uns nicht auf äußere Merkmale zu beschränken, sondern stattdessen unser Herz zu öffnen und uns den Bedürfnissen anderer gegenüber sensibel zu zeigen.
Aber zurück zum Advaita Vedanta!
Shankara fasste seine Lehre unter anderem in folgendem Satz zusammen:
“brahma satyam jagan mithya jivo brahmaiva naparah”
Die letztliche Wahrheit des Advaita Vedanta ist eigentlich höchst simpel, hier in einer lyrischen Übersetzung:
“In drei Sätzen sei es verkündet, was man in 1000 Büchern findet:
Brahman ist wirklich. Die Welt ist Schein. Das Selbst ist nichts als Brahman allein.”
Ein Gleichnis macht abstrakte Lehren klarer
Da der gewöhnliche Mensch die offensichtliche Wahrheit nicht einfach so erkennen kann, braucht es die komplexen Lehren und Übungen, um schrittweise zur Freiheit zu kommen. Diese Weisheiten werden mit ganz einfachen und praktischen Beispielen erläutert. Solche Beispiele werden immer wieder genutzt, um die abstrakte Lehre des Advaita Vedanta klarzumachen.
Das Gleichnis von der Schlange und dem Seil „Rajjusarpa-Nyaya“
In der Dämmerung tritt ein Mann auf ein Seil und verwechselt es mit eine giftigen Schlange. Er springt umher, sein Herz schllägt schnell und er schreit vor Schreck. Ein anderer Mann kommt mit einem Licht und die beiden stellen fest, dass es sich nur um ein Seil handelt und nicht um eine giftige Schlange.
Mit der Erkenntnis des Seils verschwindet auch die Angst vor der Schlange. Bei diesem Gleichnis geht es darum zu verdeutlichen, wie die Welt als Täuschung wahrgenommen werden kann. Die Wirklichkeit wird durch die Unwissenheit verdeckt, wofür im Gleichnis die Dämmerung steht, und es wird zugleich eine andere Wahrheit projiziert, dafür steht dann die Schlange. Solange wir in der Unwissenheit sind und kein Mittel zur Erkenntnis haben, halten wir die projizierte Wirklichkeit für wahr. Schließlich sagt uns unsere Wahrnehmung klar, dass „die Schlange“ offenbar die Wirklichkeit ist. Richten wir jedoch das Licht der Erkenntnis aus, erkennen wir die Natur der Täuschung unserer Sinne. Im vedantischen Sinne wird damit die Unwirklichkeit der scheinbaren Welt verbildlicht und die Überlagerung der absoluten Wahrheit, des Brahman. Das Brahman ist die einzige Wirklichkeit und diese Welt ist nur eine Überlagerung, so wie die Schlange das Seil überlagert. Erkenntnis löst den Schein oder die Illusion auf
Das Gleichnis von der Fata Morgana „Mrigatrishna-Nyaya“
In der Wüste sieht ein durstiger Reisender in der Mittagshitze eine Fata-Morgana, eine Oase mit Wasserquelle, er glaubt an seine Wahrnehmung und läuft darauf zu. Je näher er glaubt dem Ort zu kommen, desto weiter bewegt sich der Ort von ihm weg. Nach und nach entfernt er sich von seinem eigentlichen Weg und ihm wird irgendwann klar, dass er sich getäuscht hat und durch die irrtümliche Wahrnehmung vom eigendlichen Ziel weiter entfernt hat. Er wird sicher nicht noch einmal auf so eine Täuschung hereinfallen.
Bei diesem Gleichnis geht es darum, die Unwirklichkeit des manifesten Universums zu verdeutlichen, welches so scheint, als würde es dem Verkörperten Freude geben. Wenn der Suchende die wahre Identität des Selbst erkennt und sieht, dass die Welt „unwirklich“ ist, sucht er die Freude nicht mehr in den Objekten der Welt. Ebenso der Reisende in der Wüste: sobald er erkennt, dass die Oase nur eine Täuschung war, wird er nicht mehr darauf zulaufen. Er hört auf, der Illusion von sinnlicher Freude hinterherzulaufen. Die Welt ist nur eine Täuschung, so wie die Fata Morgana nur eine Erscheinung ist. Im Vedanta ist die Loslösung von der Verhaftung an die sinnliche Welt essenziell, und für die Erkenntnis der Wahrheit ist das Aufhören der Suche nach weltlichen Freuden die Voraussetzung.
Das Gleichnis von der Welle und der Ozean „Samudrataranga-Nyaya“
Es gibt unzählige Wellen auf den Weiten des Ozeans. Jede einzelne Welle existiert getrennt von den anderen und kann seperat erfasst werden. Aber jede Welle besteht aus dem selben Wasser und ist Teil des einen Ozeans. Alle sind in wirklichkeit eins, die Trennung ist nur scheinbar.
Alle Wellen sind bloß aus Wasser und sind nicht getrennt vom großen Ozean, tatsächlich sind alle eins. Bei diesem Gleichnis geht es um die unzähligen individuell verkörperten Seelen, die im manifesten Universum erscheinen. Sie werden als getrennt voneinander wahrgenommen und der unwissende nimmt sich selbst als getrennt von den anderen Wahr. Jedoch gibt es laut Vedanta nur einen Ozean von Satchidananda- „Sein, Bewusstsein und Glückseligkeit“ und alles ist in letzter Konsequenz eins. Dieses übersteigt das logische Denken und ist nur jenseits des Verstandes zu erfassen.
Das Gleichnis vom Raum im Topf „Ghatakasa-Nyaya“
Der große Raum durchdringt das ganze Universum und es gibt den selben Raum auch innerhalb des Topfes. Jedoch kann der Raum innerhalb des Topfes getrennt vom großen raum betrachtet werden, er ist eingeschlossen und begrenzt durch den Topf. Der Raum an sich ist aber nicht im geringsten berührt durch die Einschränkungen des Topfes. Wenn der Topf zerbricht wird der Raum im Topf wieder eins mit dem großen Raum und hat sich dabei nie verändert.
Ebenso scheint das Selbst oder der Wesenskern des Individuums getrennt von Gott zu sein, bzw. die Seele nicht eins mit dem großen Ganzen zu sein. Wenn der Körper und der begrenzende Geist nicht mehr ist, offenbart sich die Einheit. Der Atman im Individuum ist eins mit dem Brahman im großen Ganzen, so wie der Raum im Topf ist das Selbst im Körper immer identisch mit Brahman. Auch ist das Selbst genau wie der „Topfraum“ unberührt von allen Veränderungen.
Mehr dazu hier: Die Topf-Ton Problematik im Advaita Vedanta – Satyam und Mithya
Das Gleichnis vom Samen und dem Baum „Bija-Vriksha-Nyaya“
Der Samen ist die Ursache des Baumes und der Baum die Ursache des Samens. Es kann nicht gesagt werden welches die ursprüngliche Ursache war.
Lässt sich diese Frage überhaupt beantworten? Es ist wie die Frage aus unserem Kulturraum, ob die Henne oder das Ei zuerst da war. Die Frage, ob die Henne oder das Ei zuerst da war, ist seit langem Gegenstand von Debatten und Diskussionen. Es gibt keine eindeutige Antwort auf diese Frage! Evolutionär war wohl die Henne bzw. eine evolutionäre Vorstufe zuerst, und statt eines Eis wurde womöglich direkt ein Körper geboren. Wenn wir es kreationistisch sehen wollen, war die Henne zuerst, denn sie wurde von Gott erschaffen. Ich bin ja keines von beiden, ich glaube, das Göttliche hat als ordnendes Prinzip auf die Evolution eingewirkt. Und so denke ich, dass weder Same noch Baum, weder Henne noch Ei zuerst da war. Denn Eins bedingt das Andere, in einer unaufhaltsamen kausalen Kette, das zugrundeliegende Absolute bleibt gleich und ist Ziel des Erkenntnisprozesses. Ein anderer Aspekt in diesem Gleichnis ist, dass wir niemals die genaue Ursache hinter einem Ereignis erkennen können. Oft wird die Karmalehre falsch interpretiert, und z.B. bei schwerer Krankheit eine Schuld impliziert, womit niemandem geholfen ist.