Die folgenden Verse des Patanjali Yoga Sutra werden bei Yoga Praktizierenden und Indologen kontrovers diskutiert, und sind ein wunderbares Beispiel dafür wie unterschiedlich Sanskrit Übersetzt und Interpretiert werden kann.
Fast alle Kommentatoren folgen dem ersten (noch erhaltenen) Kommentar des Yoga Sutra, dem “Yogasūtrabhāṣya” des Vyasa (nicht zu verwechseln mit Veda-Vyasa) aus dem 5. Jhd., und der Weiterführung von Adi Shankaracharya aus dem 8. Jhd., dem “Patañjalayogasūtrabhāṣyavivaraṇa“. Einige moderne Indologen versuchen den Text von Patanjali ungefärbt von den Interpretationen dieser großen Meister zu sehen, und kommen zum Teil auf ganz andere Aussagen. Ich habe mich entschieden zunächst einer Interpretationsweise zu folgen, und dann noch eine andere Sicht zu vermitteln. Ich hoffe das ich meine Deutung dieser Kontroverse hier klar zum Ausdruck bringe.
Der 19. Vers ist ein ideales Besipiel, um diese Diskussion zu veranschaulichen, hier in verschiedenen Übersetzungen.
Vers 19 des Samadhi Pata, Patanjali Yoga Sutra
1.19 भवप्रत्ययो विदेहप्रकृतिलयानम्
bhava-pratyayo videha-prakṛti-layānam
bhava = Geburt, Ursprung, Abstammung, Angeboren
pratyayah = Wahrnehmung, Erkenntnis, scharfer Geist
videha = Körperlos, begnadeter Körper, Menschen mit besonderem Körper
prakṛti= Natur, Manifestes Universum
layânâm = Verschmelzen, Auflösen
prakrtilayânâm = in Prakriti Verschmolzen, Naturverbunden
“Asamprajnata Samadhi durch Geburt kann von denen erreicht werden, die früher Körperlosigkeit oder Verschmelzung mit Prakriti erlangt haben. ”
(Swami Vishnu-Devananda)
oder
“Zur wahren Erkenntnis kommen manche von Geburt aus, andere durch einen begnadeten Körper, wieder andere durch Naturverbundenheit.”
(www.de.Ashtangayoga.info)
oder
“Es gibt Menschen die eine angeborene Fähigkeit zur Erkenntnis besitzen, andere, die über besonderen Körperkräften verfügen, und wieder andere deren Körper mit der Welt der Erscheinungen verschmolzen sind (so dass sie nicht in der Welt erscheinen).”
(R.Sriram)
oder
“Dieser Samadhi (wenn ihm nicht völlige Loslösung folgt), wird zur Ursache der Wiederverkörperung der Götter und jener, die in die Natur eingehen.”
(Swami Vivekananda)
So unterschiedlich kann das Werk von Patanjali heute gedeutet werden! Es kommen gänzlich andere Bedeutungen heraus, je nach Übersetzung. Hier folge ich zunächst der Übersetzung von Swami Vishnu-Devananda, in dessen Yogatradition ich stehe.
Es gibt Menschen die ohne große Anstrengung ganz einfach in das höchste Bewusstsein hineinwachsen, oder sogar von Geburt an in Samadhi, dem Überbewusstsein sind. Diese haben aber, wie es heißt, in früheren Leben bereits durch Abhyasa und Vairagya das höchste Ziel erreicht. Kern der Yoga Philosophie ist die Idee der Wiedergeburt. Wir existieren in einem Zyklus von Geburt, Leben, Tod, Aufenthalt in Zwischenebenen und Wiedergeburt und sind durch unsere Handlungen an die Welt gebunden. Ziel der Yogapraxis ist es die Seele aus dem Kreislauf der Wiedergeburten (=Samsara) zu befreien. Wenn wir das Überbewusstsein und die Selbstverwirklichung erreicht haben, können wir entscheiden was wir tun. Man kann grob sagen es gibt vier Möglichkeiten:
1. sich ganz in das Göttliche aufzulösen, in Nirvana aufzugehen
2. sich frei im unendlichen Universum zu bewegen
3. aus höheren astralen Ebenen den anderen Wesen zu helfen, oder
4. zurück auf die Welt zu kommen um alle anderen auf dem Weg zu unterstützen.
Entscheidet man sich also als Meister wieder zu Inkarnieren, kann es unter bestimmten Umständen sein, daß man sehr leicht oder automatisch die Erleuchtung erreicht. Beispiele dafür sind Ramana Maharshi, der mit 16 Jahren nach einem Streit mit seinem Bruder wegen Mathehausaufgaben über die Konfrontation mit dem Tod Samadhi erreichte. Oder auch Ananadamay Ma die als Jugendliche immer wieder willkürlich in Samadhizustände fiel. Solche Meister sind eher selten, meist müssen auch Befreite die Wiederkehren, durch beständige Praxis wieder mit dem höchsten Verschmelzen. Dies hängt sicher von der Art des Auftrages und dem Grad des Bewusstseins ab.
Und hier nun die Übersetzung von Christopher Key Chapple, eines amerikanischen Indologen, der den Yoga Sutra versucht sinngemäß zu Übersetzen, also ohne gefärbt zu sein durch eine Tradition.
“Die Jenigen die in die Welt der Erscheinungen absorbiert und Körperlos sind, haben die Intention sich zu entwickeln.”
Er unterteilt nun die Verse 19 – 21 in drei Stufen, so wie es auch Vyasa in seinem ersten Kommentar getan hat. Die niedrigste Stufe ist die hier Beschriebene: Wesen die ganz Absorbiert sind mit Prakriti, der Welt der Erscheinungen, oder Wesen die gerade Körperlos sind, haben einen weiten Weg vor sich. Eine völlig grundlegend andere Deutung! Manche sprechen in diesem Vers von den höchsten Meistern die mühelos zu Samadhi kommen, andere sprechen von Wesen die ganz weit weg sind vom Zustand des Überbewussten.
Ähnlich interpretiert es auch Iyengar.
“In diesem Zustand erfährt man Körperlosigkeit oder ist verschmolzen mit der Natur. Dies führt zur Isolation oder Einsamkeit.”
(B.K.S. Iyengar)
Letztlich könen beide Versionen Sinn machen, meine Intention war, diese Kontroverse klar zu machen. Vielleicht wird es in den nächsten Versen deutlicher. Ich denke die 2. hier beschriebene Version macht mehr Sinn. Zumal Patanjali zuvor einem ähnlichen Muster folgt: Ein Thema wird Vorgestellt und dann Erläutert. ZB. in Vers 5-11 nennt er zuerst die 5 Arten von Vrittis, um sie dann nachher genauer zu beschreiben. Hier macht er es wohl andersherum: er nennt die drei Arten von Yogis in Vers 19-21 um sie dann in 22 zusammenzufassen. Nur so stehen die Verse 21 und 22 in einem Sinnzusammenhang mit den anderen Versen. Der ersten Version folgend stünden sie quasi alleine für sich da.
Vers 1.20, Patanjali Yoga Sutra
1.20 श्रद्धावीर्यस्मृति समाधिप्रज्ञापूर्वक इतरेषाम्
śraddhā-vīrya-smṛti samādhi-prajñā-pūrvaka itareṣām
shraddhâ = Glaube, Vertrauen, Überzeugung
vîrya = fester Wille oder Energie, Kraft
smriti = Gedächtnis, Erinnertes, daran denkend
prajñā = Ahnung, Wissen, Weisheit, Abschätzungsvermögen
samâdhi–prajñâ = scharfer Intellekt, Ahnung des Überbewussten
pûrvaka = dem vorangeht
itaresâm = für andere
“Andere erreichen die innere Stille durch Glauben, Energie, Erinnerung und klares Bewusstsein.”
oder
“Für wieder andere geht Glaube, Wille, Erinnerung, objektive Betrachtung und Weisheit voraus.”
Die meisten Menschen müssen sich auf einen langen Weg zum höchsten Ziel einrichten. Patanjali nennt hier vier bzw. fünf Punkte die auf dem Weg zum Ziel wichtig sind, wobei der Fokus auf dem Weg immer auf dem Weg selbst liegen sollte, nicht auf das Ziel. Es ist gut sich immer wieder an diese Punkte zu erinnern und zu sehen, ob sie im Leben verwirklicht werden. Sie stehen auch in Verbindung zu den Acht Gliedern des Raja Yoga (Ashtanga), die Patanjali später einführt. Es heißt in der Interpretationsweise der ich folge, daß man entweder, wie in Vers 19 Samadhi “von selbst” (durch Vorarbeit in anderem Leben) erreicht, oder eben durch die Punkte in Vers 20 dort hin gelangt.
Diese einzelnen Punkte sind:
- Shraddhâ = der feste Glaube, das Vertrauen an das zu erreichende Ziel. Ohne einen Meister zu haben, dem man vertraut, oder ohne dass man klar an eine Lehre glaubt der man folgt, kann man kaum zum Ziel gelangen. Es braucht eine Ausrichtung und die Überzeugung es dort hin zu schaffen.
- vîrya = nur durch einen starken Willen kann man den Weg zu Ende gehen. Es gibt viele Fallen auf dem Weg, viele Sackgassen in die man gerät und es geht ständig auf und ab. Nur durch einen eisernen Willen kann man sich immer wieder auf dem Weg ausrichten und einen Schritt nach dem anderen gehen.
- smriti = Wir müssen uns immer wieder erinnern, uns besinnen. So viele Verlockungen entlang des Wegesrands lenken uns ab und laden uns zum verweilen ein. Das Ausrichten auf den Weg, auf die Gegenwart muss zur Gewohnheit werden, uns muss immer wieder der Gedanke an den Weg und das Ziel kommen, nur so können wir mit der Erfahrung Verschmelzen.
- samâdhi–prajñâ = wir brauchen eine Ahnung des überbewussten Zustandes, eine Idee was es bedeutet sich zu befreien. Wie eine Möhre die dem Esel vor die Nase gehalten wird um ihn anzutreiben, benötigen wir eine Ahnung des höchsten Zieles.
Manche teilen “samâdhi–prajñâ” noch in zwei Teile, was für mich auch Sinn macht:
- samâdhi = Wörtlich Überbewusstsein oder hier womöglich: das betrachten der gegenwärtigen Situation aus einer Meta-Perspektive. Also die losgelöste, möglichst objektive Sicht auf das was ist.
Dazu ein Zitat aus www.de.Ashtangayoga.info :
“Samadhi taucht überhaupt erstmals in Buddhas Reden auf. Das Wort stammt von samyak (korrekte, richtige, akkurate, u.a. ausgerichtete ) und adhī (Anmerken, Wahrnehmen, Betrachten, Beobachten). Diese wiederum haben ihre Wurzeln als sama (balanciert, ausgeglichen, neutral) und dhī (Denken, Verstehen). Wir können Samadhi hier übersetzen als eine balancierte, richtige Sicht und Betrachten. Also im Sinne einer unabhängigen, objektiven Sicht. Wir nehmen die Welt objektiv, ohne Vorurteil war.”
- prajñâ = Weiheit, Ahnung, intuitive Sicht, Abschätzungsvermögen
Samadhi ist das sehen im Moment, Prajna ordnet ein in Raum und Zeit.
Diese Fünf Punkte sind dann auch identisch mit den 5 “Kardinalstugenden” des Buddhismus. Somit ist dies dann ein typisches Beispiel für Patanjalis abschreiben oder zusammenfügen seiner Philosophie, vor allem aus dem Buddhismus. Und es macht demnach auch Sinn hier von fünf Tugenden statt nur von vieren zu Sprechen.
Die oben genannte Kontroverse betreffend ist hierzu zu sagen, dass folgende Frage geklärt werden muss: Handelt es sich nun bei diesem Vers um die mittlere von drei Kategorien von Yogis, die also durch die 5 Tugenden weiter kommen müssen? Oder ist es die 2. und die folgenden Verse stehen losgelöst davon? Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr macht die Variante der 3 Arten und dem 22. Vers der es zusammenfasst Sinn.
Vers 1.21, Patanjali Yoga Sutra
1.21 तीव्रसंवेगानामासन्नः
tīvra-saṁvegānām-āsannaḥ
Tîvra = Stark, Intensiv
samvegânâm = Übung, Praxis
âsannah = „nahe sitzend“, nähe
“Es wird schnell erreicht, wenn der Wunsch intensiv ist.”
oder
“Durch intensive Praxis kommt man dem Ziel nahe.”
Der Satz ist wohl der klarste bisher. Bemühen wir uns, werden wir bald das Ziel erreichen. Das können wir als ein Versprechen deuten, auf das wir uns immer wieder beziehen können. Unser Bemühen wird von Erfolg gekrönt sein. Logisch.
Aber warum sagt er das hier?
Entweder es baut auf die letzten beiden Verse auf und stellt die dritte Stufe dar, also der Yogi der sehr bemüht ist wird auch schnell zu Ziel kommen. Oder aber es wird interpretiert auf die Weise von Swami Vishnu-Devananda. Also als eine losgelöste Aussage die letztlich nur bekräftigt, dass der Übende wie in Vers 20 durch Anstrengung schnell zum Ziel kommt. Leider kommentieren weder Swami Vishnu-Devananda noch Sukadev diesen Vers, bzw. diesen Teil detailliert.
Vers 1.22, Patanjali Yoga Sutra
1.22 मृदुमध्याधिमात्रत्वात्ततोऽपि विशेषः
mṛdu-madhya-adhimātratvāt-tato’pi viśeṣaḥ
mṛdu = mild, sanft
madhya = mittelmäßig, mäßig
adhimâtrat = intensiv, mächtig, stark
vât = oder
tatah = von ihm, nach dem, daher, daraus
api = auch, sogar
visheshah = Abstufung, Unterscheidung
“Daher kann der Wunsch nach Befreiung kann mäßig, mittelmäßig oder intensiv sein.”
oder
“Mild, maßvoll oder mächtig kann diese Praxis deshalb sein.”
Ok. Klar. Verstanden. Aber wozu? Warum sagt Patanjali das? Die beiden letzten Verse ergeben für mich keinen tieferen Sinn:
“Eine Kuh kann klein, groß und mittelgroß sein!”
Aha… logisch. Und genau wegen dieser beiden so simpel erscheinenden Verse 21&22, die einfach so für sich da stehen, denke ich dass es noch einen anderen, tieferen Zusammenhang geben muss, der sich womöglich aus der genannten anderen Interpretation der Verse 19- 21 ergeben kann. Zumal das Wort “tatah” hier klar auf einen Zusammenhang mit vorher Gesagtem hinweist. So wie Patanjali eben auch in den Versen zu Beginn des Textes immer mehrere Verse zusammenfasst, die dann erläutert werden. Wie zB. die Verse 5&6, welche die Verse 7-11 zusammenfassen. Also deutet hier der Vers womöglich auf die Verse 19-21 hin, die eben nochmals in den 3 Kategorien zusammenfasst werden. Also entgegen der Interpretation von Swami Vishnu-Devananda, der letztlich in 19 und 20 in zwei Arten von Yogis einteilt, und dann in Vers 20 sagt: Wer sich anstrengt erreicht schnell das Ziel, und dann eben losgelöst davon in 21 sagt: es gibt dreierlei Yogis. So halte ich die Interpretation der drei Arten von Yogis, die in 19-21 beschrieben werden für sinnvoller. Zumal das auch der Ansicht von Vyasa folgt, der allerdings noch mal einen anderen Schluss zieht. Vyasa meint Vers 22 teilt die vorher genannten Arten von Yogis nochmals in je drei Kategorien auf, so dass man zu 9 Arten von Yogis kommt.
Auch in der Shiva Samhita gibt es eine solche Aufteilung von Yogis. Die selben Worte werden dafür genutzt: mṛdu, madhya, adhimātratvāt und zusätzlich adhimātra. Es ist in Indien Üblich, dass sich die verschiedenen Systeme gegenseitig bereichern und eben von einander abschreiben.
Soweit meine Kommentare zu den Versen 19-22 des Patanjali Yoga Sutra. Ich hoffe die Diskussion um diese Verse ist deutlich geworden. Ich musste etwas ausführlicher werden um es klar zu machen, bin jedoch grundsätzlich weiterhin bemüht die Kommentare knapp zu halten….