Die Wahrnehmung des Menschen wird durch seine Überzeugungen gefiltert und eingeschränkt. Je nachdem wie wir über die Welt denken bzw. welche Konzepte wir über die Wirklichkeit haben, wird unser Geist uns darin vorwiegend bestätigen. Erfahrungen, die nicht unserem Weltbild entsprechen werden leider meist nicht bewusst wahrgenommen, sondern ignoriert und verdrängt.
Wir haben sozusagen ein internes “Filterbubble”, so wie auch soziale Medien uns immer nur die Artikel aufzeigen, welche uns gefällig sind. Ein großes Problem, da z.B. vor allem Rechte auf diese Weise nur in ihrem verzerrten Weltbild bestätigt werden.
Patanjali spricht in seinem Yoga Sutra immer wieder über dieses Phänomen. Bereits im Vers 3 des 1. Kapitels benennt er diese Problematik:
„Sonst verzerren Gedanken die Wahrnehmung.“
Es ist wichtig, dass wir uns dieses Phänomen bewusst machen und uns bemühen, immer wieder über unseren Tellerrand zu blicken.
Yoga Sutra Vers 4.15
4.15 वस्तुसाम्ये चित्तभेदात्तयोर्विभक्तः पन्थाः
Vastusāmye cittabhedāttayorvibhaktaḥ panthāḥ
vastu = Objekt, Gegenstand, Objekt, Ding
sāmye = Übereinstimmung, Gleichheit
citta = Verstand, Geist, Denken, Bewusstheit
bhedāt = Zerbrechen, Veränderung, Verschiedenheit
ta = der, die, das, deren
vibhaktaḥ = Schnitt, verschieden, getrennt
panthāḥ = gehen, Pfad, Wanderer, Wege
“Die gleichen Objekte werden durch Bewusstseins-Zustände in unterschiedlichen Wegen verschieden erfasst.”
Mit “unterschiedlichen Wegen” meint Patanjali hier die individuellen Fortschritte und Blickwinkel der Suchenden. Alle bewegen sich auf das gleiche Ziel hin, stehen aber an unterschiedlichen Standpunkten auf dem Weg. Also je nach dem wo man steht und mit was man sich so beschäftigt, bzw. was man gerade denkt und fühlt, wird man die Dinge anders betrachten. Logisch.
Swami Vivekananda schließt aus diesem Vers:
“Das heißt, es gibt eine von unserer Denksubstanz unabhängige objektive Welt!”
Aber wer nimmt diese objektive Welt wahr? Man denkt natürlich immer, dass man selbst die Welt wahrnimmt wie sie tatsächlich ist, Aber es ist immer bloß ein Teilausschnitt der wahrgenommen wird, z.B. haben Hunde, Fledermäuse, Radaranlagen und Infrarotkameras einen gänzlich anderen Blick auf die Wirklichkeit. Auch der vollkommen Erwachte Yogi nimmt die Objekte nicht objektiv wahr, aber es sieht jedes Objekt (Prakriti) nur als Teil von sich selbst (Purusha). Es ruht dann der Sehende in seinem wahren Selbst.
Yoga Sutra Vers 4.16
4.16 न चैकचित्ततन्त्रं वस्तु तदप्रमाणकं तदा किं स्यात्
Na caikacittatantraṁ vastu tadapramāṇakaṁ tadā kiṁ syātaben
na = nicht
ca = auch, und
eka = eins, einzig, ein, einzeln
citta = Verstand, Geist, Denken
tantram = abhängig von, Grundordnung, Grundlage
cet = ist, und, auch
vastu = Objekt, Gegenstand, Objekt
tat = der, die, das
apramāṇa = nicht erkannt, ohne Maß, ohne Gewicht
tadā = dann, ab diesem Zeitpunkt, danach
kim = was, wer
syāt = es könnte sein, würde geschehen
“Objekte existieren unabhängig davon ob sie vom Medium der Wahrnehmung erfasst werden.”
Die Welt dreht sich weiter, egal ob ich sie wahrnehme oder nicht. Das Universum würde auch ohne Menschen existieren, nur würde es keiner bewusst mitbekommen. Dieser Vers zielt womöglich auf die Aussagen mancher Vedantins die sagen, dass die Welt nicht existent ist wenn sie nicht wahrgenommen wird. Da gibt es die klassische Frage nach dem umfallenden Baum im einsamen Wald: macht er auch ein krachendes Geräusch wenn es niemand hört? Patanjali sagt klar, und das entspricht eben auch dem gesunden Menschenverstand, dass die Welt unabhängig vom Wahrnehmenden existiert.
Yoga Sutra Vers 4.17
4.17 तदुपरागापेक्षित्वाच्चित्तस्य वस्तु ज्ञाताज्ञातम्
Taduparāgāpekṣitvāccittasya vastu jñātājñātam
Tad = der, die, das
uparâga = die Färbung, Verfärbung
apekshin = erwartend, berücksichtigend
chittasya = durch Verstand, durch Denken
vastu = Objekt, Gegenstannd, Objekt
jnâta = gewußt, bekannt
ajnâtam =nicht gewußt, unbekannt
“Je nachdem wie stark das Bewusstsein ein Ding wahrnimmt und verfärbt, ist es bekannt oder unbekannt.”
Wir sehen die Welt immer durch den Filter unserer Überzeugungen. Auch wenn wir meinen die Dinge so zu sehen wie sie sind, tragen wir jedoch immer eine Brille aus unseren Denkweisen welche die Wahrnehmung begrenzen. Alles was wir wahrnehmen ist verfärbt durch unser Denken. Je mehr Filter (=Überzeugungen) wir haben, desto weniger nehmen wir die objektive Wirklichkeit wahr. Uns sind also die Objekte “bekannt” wenn wir wenig Filter und Überzeugungen haben und “unbekannt” wenn wir die Wahrnehmung verfärben.