Das Dŗg-Dŗśya-Viveka ist eines der Advaita Vedanta Werke die dem Philosophen Adi Shankaracharya zugeschrieben werden, aber ihm nicht eindeutig zugeordnet werden können. Der große Shankara (788-820) hat seine 4 wichtigsten Schüler in die 4 Himmelsrichtungen entsendet um Klöster (Maths) zu errichten um seine Philosophie für die Zukunft zu konservieren. Der jeweilige Math-Vorsteher bzw. Nachfolger der 4 Schüler wird auch jeweils als Shankaracharya bezeichnet, Schriften von diesen Nachfolgern können daher nicht eindeutig zugeordnet werden und manche behaupten Adi („der Ursprüngliche“) Shankaracharya hätte diese verfasst. Das Dŗg-Dŗśya-Viveka wird auch und vor allem dem Lehrer Bĥaratī Tīrtha (1328-1380) zugeschrieben, der wiederum Guru des berühmten Vidyaranya (1350–1386) war, dem Autor des Panchadasi. Nichts so weniger desto Trotz ist das Dŗg-Dŗśya-Viveka ein essentieller Advaita Vedanta Text der bestimmte Aspekte der Lehre ganz klar ausformuliert. Der Text enthält insgesamt 46 Verse die sich darum drehen den Seher vom gesehenen zu unterscheiden, ganz im Sinne des Titels:
- Dŗg – seher, wahrnehmender
- Dŗśya – gesehenes, wahrgenommenes
- Viveka – Unterscheidungskraft
Dŗg-Dŗśya-Viveka: Seher und gesehenes unterscheiden
An dieser Stelle habe ich einige Verse ausgewählt und Kommentiert um dem geneigten Leser das Dŗg-Dŗśya-Viveka nahe zu bringen.
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„Es entsteht nicht und vergeht nicht, es nimmt nicht zu und wird nicht weniger. Es ist auf immer selbst-leuchtend und vermag ohne jede Hilfe alle Dinge zu erleuchten.“
Das wahre Selbst bzw. das absolute Bewusstsein ist der Urgrund und Essenz jeglicher Erfahrung und es umfasst alles was ist und was nicht ist. Es gibt nur das Eine und dieses ist unsere tatsächliche Natur, jenseits aller Konzepte und Erscheinungen. Die Welt wie wir sie von unserer relativen Perspektive aus erfahren, ist bloß ein temporäres Phänomen und nicht wie irrtümlich geglaubt Grundlage der Existenz an sich, daher ist dieses „Eine“ auch nicht dem Wandel unterlegen, sondern es ist sozusagen die Existenz und das Bewusstsein an sich. Diese Göttliche Wirklichkeit zu erkennen ist Ziel unseres seins, denn im Gewahrsein der Einheit allen seins kann das Leid nicht mehr erfahren werden, unser Bewusstes Sein wird erfüllt von absoluter Fülle und bedingungsloser Zufriedenheit, also SatChitAnanda- Existenz- Wissen- Glückseeligkeit. Wenn wir unsere Identifikation mit dem Körper und der Persönlichkeit mit allen Facetten loslassen werden wir selbst-leuchtend, bzw. es wird anstrengungslos die Welt als leuchtende Einheit erlebt.
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Nach Ansicht der Weisen ist der Widerschein gleichbedeutend mit dem Ichsinn in derselben Art wie das Feuer mit dem glühenden Eisenstück gleichbedeutend ist. Der Körper, der sich mit dem Ego identifiziert hat, bekommt Eigenbewusstsein.
Tatsächlich sind wir das eine Bewusstsein ohne Begrenzung, Eigenschaften, Name und Form, jedoch ist unsere
übliche Perspektive eine relative. Wir erleben die Welt als getrennt von uns, es gibt einen Erlebenden und etwas erlebtes, einen Beobachter und etwas was beobachtet wird, und in diesem relativen Sinn sind wir leidend und begrenzt. Die Objekte welche wir erleben sind im Sinne dieses Textes nur der Widerschein des Einen, also die Welt ist aus unserem individuellen Blickwinkel bloß die aus der Ich-Identifikation erwachsene Illusion, denn in Wirklichkeit sind wir eins mit dem was durch uns erfahren wird. Das Licht ist untrennbar von der Lampe, ebenso ist die Welt der Erscheinungen nicht zu trennen vom Bewusstsein. An diesem Vers interessiert mich vor allem der letzte Satz, den ich für einen wesentlichen Knackpunkt in der Advaita Vedanta Lehre halte. Das was wir als unser Ich begreifen, ist nur eine Projektion des Bewusstseins innerhalb der Matrix, sozusagen hat sich unsere Illusion verselbstständigt. Wir sind letztendlich wie eine Maschine die ein Eigenleben führt und glaubt ein Individuum zu sein, obwohl sie über das Internet gesteuert wird. Dieses Eigenbewusstsein ist sehr zäh uns unser größtes Hindernis, da es an seiner Existenz als scheinbares Individuum festhält.
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Die andere Macht verbirgt den Unterschied zwischen Seher und Gesehenem, die im Inneren des Körpers gelegen sind, und jener, zwischen Brahman und der Erscheinungswelt, die außerhalb wahrgenommen wird. Diese Macht ist die Ursache der phänomenhaften Welt.
Mit der „anderen Macht“ ist Maya gemeint, die Kraft der Illusion, welche uns glauben lässt ein begrenztes Individuum zu sein. Maya hat einen verhüllenden und einen projetzierenden Aspekt, sie verbirgt die tatsächliche Wahrheit und sie legt eine scheinbare darüber. Die Kraft der Maya manifestiert sich in uns als Unwissenheit, ergo brauchen wir Wissen (Erkenntnis, Weisheit- nicht bloße Informationen!) um die Maya zu überwinden. Wenn wir tatsächlich erkannt haben, dass alles Eins ist und wir nicht getrennt sind von den Phänomenen die wir erleben, hört auch die Welt als solche auf zu existieren. Denn wenn wir erkennen, dass alles in uns stattfindet, erfüllt sich unser (Er-)leben mit Magie, wir selbst sind nur eine Erfahrung im universellen Bewusstsein. Die Welt ist nur die oberflächliche Wirklichkeit, das Bewusstsein ist die zugrundeliegende Wahrheit.
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Wenn man gegenüber der Welt der Namen und Formen gleichgültig geworden und dem SatChitAnanda ergeben ist, soll man ununterbrochen Kontemplation üben über das Zentrum des Herzens oder über einen außerhalbliegenden Gedankensamen.
An diesem Vers des Dŗg-Dŗśya-Viveka fasziniert mich vor allem der erste Teil, der uns Aufschluss über den Weg gibt. Es gilt Losgelöstheit gegenüber der Welt der Erscheinungen zu erreichen, oder anders gesagt die Zuneigungen und Ablehnungen überwinden. Je mehr wir das (in meinen Erläuterungen zu Vers 5 beschriebene) SatChitAnanda verwirklichen, also aus dem Gewahrsein der Einheit heraus agieren, desto gleichgültiger gegenüber dem auf und Ab der Erfahrungen werden wir, wobei das keineswegs ein Verlust des Mitgefühls beinhaltet. Tatsächlich ist es meine Erfahrung auf dem Weg, dass je mehr man die Einheit als Wahrheit akzeptiert, desto leichter das Leben wird. Mit dem 2. Teil des Verses wird eine Praxis gefordert die hilfreich ist um das Mitgefühl zu erhöhen und die geistige Ausrichtung zu verbessern. Es wird durch die Kontemplation über das Herz eine Reinheit im Fühlen entwickelt und Liebe kultiviert. Durch das Ausrichten auf einen „Ausserhalb“ liegenden Gedankensamen, wobei es im absoluten Sinne natürlich kein Innen und Aussen gibt, wird eine Fokussierung des Geistes erreicht.
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Die Begrenzung ist eingebildet, aber das scheinbar Begrenzte ist wirklich. Der Zustand des Jiva entsteht durch Überlagerung der Merkmale auf Atman, aber dieser hat dieselbe Natur wie Brahman.
Tatsächlich sind wir Brahman, das eine, allesumfassende, bewusste Sein, jedoch glauben wir begrenzt zu sein auf Körper und Person. Es ist nur die fest verankerte Illusion die uns davon abhält frei zu sein, und es geht bloß darum diese zu überwinden und zu erkennen, dass wir eins sind mit der Einheit allen Seins. Die Begrenzung ist demnach nur eine falsche Vorstellung, wahr ist bloß das alles in uns selbst erscheint. Der Zustand des Jiva ist sozusagen der Normalzustand des Leidens unter der Illusion der durch Unwissenheit gefestigt wird. Unser wahres Selbst ist nicht verschieden vom kosmischen Bewusstsein welches wir bereits sind, also dieses ist nicht durch Anstrengung zu erreichen. Man sagt es ist Gott der uns erkennt, und nicht andersherum, bzw. es ist das eine Bewusstsein was immer mehr durch uns hindurch scheint.
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Die projizierende und verhüllende Maya ruht in Brahman. Sie verhüllt das ungeteilte Wesen des Brahman und läßt stattdessen die Welt und den jiva erscheinen.
Das ungeteilte Wesen ist unser wahres Selbst, welches durch die eine Kraft des Maya verhüllt wird uns durch die andere glaubt begrenzt zu sein. Diese beiden Aspekte der Maya wirken gemeinsam an unserer Unwissenheit und lassen uns an unserer Begrenztheit leiden. Traditionell wird dieses anhand des Gleichnisses vom Seil und der Schlange erläutert, hier die Kurzfassung: im Zwielicht der Dämmerung erscheint ein Seil auf dem Weg als Schlange und erfüllt uns mit Angst. Es wird also das Seil verhüllt und aufgrund der Unwissenheit die Idee der Schlange auf das Seil projetziert. Ebenso erkennen wir nicht unser Selbst und glauben stattdessen ein Jive (Körper und Person) zu sein.
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Der echte Jiva erkennt, dass seine Identität mit Brahman real ist. Er sieht nichts anderes als diese Identität. Alles andere betrachtet er als Illusion.
Dieser wird als Jivanmukta bezeichnet, jemand die höchste Erkenntnis erreicht hat, also tatsächlich weiß, dass alles eins ist. Dieses wird auch als Erleuchtung bezeichnet, wobei dieser Begriff verschiedene Bedeutungsebenen hat. Wie in meinen Ausführungen zu Vers 33. Beschrieben, können wir diese Erkenntnis nicht herbeiführen, da jede Handlung innerhalb der Identifikation mit Körper und Person stattfindet. Wir können uns bloß von unseren Falschen Konzepten lösen und uns öffnen für die unmittelbare Erkenntnis der Einheit die dann irgendwann kommt. Nicht ich bin es der Gott erkennt, sondern es ist Gott der sich selbst in mir als ich erkennt. Ich hoffe, dass dir dieser Text über das Dŗg-Dŗśya-Viveka dabei helfen konnte.