In der Philosophie des Yoga und Vedanta ist mir das größte Rätsel, wie ich den Begriff der „Maya“ verstehen kann.
Maya = Schein & Illusion
Das Wort Maya bedeutet wörtlich „Illusion, Schein, Trug“ und besagt, dass die Welt, wie wir sie wahrnehmen, nicht die letztendliche Wirklichkeit ist, sondern eben nur ein Trugschluss. In der indischen Philosophie gilt diese Täuschung als größtes Hindernis auf dem spirituellen Weg. Wobei die meist übliche Übersetzung als „Illusion“ meinem Erachten nach unzutreffend ist, eher würde die Übersetzung des Philosophen und Vedanta Meisters Rafael zutreffen: „formgebende Existenz“, weil es nicht impliziert, dass Gott uns täuscht. Die Erde scheint eine Scheibe zu sein, so sagt es zunächst der gesunde Menschenverstand, aber diese Wahrnehmung entpuppt sich als Täuschung, ebenso so vieles, was wir wahrnehmen.
Die Lehre des Vedanta sagt: Brahman ist die letztlich einzige Wahrheit und Wirklichkeit und es ist die Einheit allen Seins, die nonduale Erfahrung des Verschmelzens von Subjekt und Objekt, das eine all durchdringende Bewusstsein, welches alles enthält und eines ist. Dies wird als SatChidAnanda bezeichnet: reines Sein, pures Bewusstsein und höchste Freude. Die wahre Natur eines jeden Wesens ist das nicht getrennte Einssein mit allem, alles andere ist nur scheinbar, bzw. die Maya ist nur der oberflächliche Schein.
Maya ist nur die substanzlose oberflächliche Wirklichkeit
Es gibt verschiedene Ebenen oder Perspektiven der Wirklichkeit: Es gibt diese relative Ebene der bedingten und erfahrbaren Welt, in der wir gemeinsam leben, und die für uns als wirklich wirkt. Aber es gibt eben auch Brahman, die absolute Ebene, die ewig und unveränderlich ist und der Urgrund von allem ist, und diese Ebene wird als die tatsächliche zugrunde liegende Wirklichkeit und Wahrheit beschrieben.
So wie Ramana Maharshi sagt:
„Das Ergebnis all dessen ist, dass die Erscheinungen der Welt real sind, wenn sie als das Selbst erfahren werden und illusionär, wenn sie als getrennt vom Selbst wahrgenommen werden.“
Wenn wir also aus dieser nondualen Sicht diese Welt betrachten, ist alles eins und die erfahrbare Welt ist eben die physische Manifestation des Bewusstseins. Sehen wir die Welt jedoch aus unserem gewohnten, begrenzten, konditionierten Geist heraus, erfahren wir bloß die Illusion als Wirklichkeit, ohne zu erkennen, dass dem die absolute Sicht zugrunde liegt. Der Schein ist also vom relativen und bedingten Standpunkt aus für uns wahr und wirklich. Aber er trügt, weil wir nicht erkennen, dass es eine Täuschung ist und tatsächlich die nonduale Einheit alles ist, was es gibt. Der Begriff Brahman beschreibt letztlich „alles, was ist“, und die Illusion ist ein Teil dessen oder geht daraus hervor. Im Vedanta sagen wir Brahman ist Purnam: die Fülle, das Vollständige, das Ganze; ich denke, die Buddhisten meinen dasselbe, wenn sie von Shunyata sprechen, die Leere, das Nichts. Die Illusion ist ein Teil des großen Ganzen und wird irrtümlich für die höchste Wirklichkeit gehalten.
Der Indologe Pof. Martin Mittwede sagt:
„M. ist die faszinierende, irreführende Täuschung, welche die tatsächlich unwirkliche, bedingte Natur mit ihrer verführerischen Mannigfaltigkeit als letztendliche Wirklichkeit erscheinen lässt. Maya ist ein Bewusstseinsphänomen, das Ergebnis einer mangelhaften Wahrnehmung.“
Also die Maya ist eine Trübung des Geistes und wir haben die Möglichkeit, über die Maya hinauszuwachsen und den Schleier zu lüften.
So gibt es das klassische Gleichnis vom Seil und der Schlange, Rajjusarpa-Nyaya:
„In der Dämmerung sieht ein Mann eine giftige Schlange auf dem Weg. Er springt umher, sein Herz schllägt schnell und er schreit vor Schreck. Ein anderer Mann kommt mit einem Licht und die beiden stellen fest, dass es sich nur um ein Seil handelt und nicht um eine giftige Schlange.“
Die Schlange ist die Maya, betrachten wir sie im Lichte der Erkenntnis, sehen wir, dass es nie existent war und es eben immer schon nur ein Seil war. Maya löst sich gänzlich auf, wenn wir Brahman erfahren.
Der große Adi Shankara erklärt es sehr klar in seinem Brahma Jnanavali Mala:
„Es gibt zwei Dinge, die von einander verschieden sind; diese sind der Seher und das Gesehene. Der Seher ist Brahman, und das Gesehene ist Maya. Das ist, was der gesamte Vedanta öffentlich verkündigt.“
So erläutert Swami Sivananda die Maya:
„Maya ist die Mutter unbegrenzter Rätsel. M. verhüllt Brahman und läßt es anders erscheinen, als es ist. Sie teilt das unendliche, namen-, gestalt- und eigenschaftslose Brahman in die begrenzten Erfahrungsbereiche und gibt ihnen Namen, Formen und Eigenschaften. Die Illusion existiert als Ursache der Wahrnehmung der Mannigfaltigkeit des Universums, aber in Wahrheit hat sie keine Wirklichkeit. Sie ist selbst ebenso ein Schein wie der Schein, den sie schafft. Man kann nicht sagen, daß sie existiert, man kann auch nicht sagen, daß sie nicht existiert. Sie ist die falsche Ursache des trügerischen Scheins. Man kann nicht sagen, was sie eigentlich ist. Sie ist unergründlich und unbestimmbar. M. ist weder wahr noch falsch.“
Es werden zwei Arten der Maya unterschieden:
- Avarana ist die verhüllende Kraft, welche die Wahrheit unter dem Schleier verbirgt.
- Vikshepa ist die projizierende Kraft welche der Wahrheit eine andere Wirklichkeit überstülpt.
Sie ist also sowohl der Schleier, der sich über die tatsächliche Wahrheit legt und uns täuscht, als auch unsere Einbildung die eine Nich-Wahrheit als Wirklichkeit betrachtet. Maya überlagert und verzerrt also die tatsächliche Wirklichkeit, die wir als Brahman benennen. Maya ist im Vedanta alles, was nicht aus der Erfahrung des Einheitsbewusstseins wirkt.
Die Maya wird in der indischen Philosophie nicht nur als eine Naturkraft gesehen, sondern auch als eine Entität, die hinter diesem Phänomen steht. Sie ist eine Form der Göttlichen Mutter und wird oft als Durga oder Laxmi gesehen, auch Kali wird als die Herrin über die Täuschung der Prakriti gesehen.
Im ältesten Text der Inder, dem Rig Veda steht im Vers 9.47.18
„Durch die Maya erscheint Indra als Universum.“
Also durch die Maya verkörpert sich das Göttliche, nur ist eben das Verkörperte nicht die letztendliche und einzige Wahrheit.
In der Brhadaranyaka Upanishad 2.5.19 wird gesagt:
„Gott nimmt durch seine Maya viele Formen an. Er nimmt diese an, um sich selbst zu offenbaren.“
Die Maya ist also eine Gnade des Herrn durch die wir ihn erkennen können. Oder anders gesagt: Das Göttliche jenseits aller Namen und Formen offenbart sich dem Menschen in Gestalt der Maya, entscheidend ist, hinter den Schleier zu schauen und Brahman zu erkennen.
Wird Brahman erkannt, löst Maya sich auf!
Die Svetasvatara Upanishad lehrt:
„Wisse: Prakriti (Natur, Erfahrungsebene) ist Maya, und der Beherrscher dieser Maya ist Gott Selbst:“
Die ganze manifeste Welt ist die Maya, sie ist zwar wirklich, jedoch nur ein Teil der Wahrheit. Wichtig ist, dass wir uns nicht in dieser Illusion verlieren und verheddern, sondern darüber hinaus wachsen, es transzendieren.
Der große Advaita Vedanta begründer Adi Shankaracharya sagt im Kommentar zu den Brahmasutras 2.2.2.:
„Auch wenn Gott in der Essenz still und neutral ist, schöpft es die Welt durch seine Maya die sich verbindet mit der Avidya aller Wesen.“
Also Gott selbst ist Bewusstsein an sich, Stille, Liebe, Gleichmut, Bewegungslosigkeit, und die Illusion manifestiert sich im Individuum als Unwissenheit und Verwechslung: Avidya. Identifizieren wir uns mit der Erscheinung, verlieren wir uns in der Welt und können Gott nicht erfahren.
Im 7. Kapitel der Bhagavad Gita finden wir im 14. Vers die folgende Aussage:
„Wahrlich, diese meine göttliche Täuschung, die aus den drei Wirkkräften geschaffen ist, ist schwer zu überwinden; wer allein bei mir Zuflucht sucht, geht über diese Täuschung hinaus.“
Die Kraft des Scheins wird von den Gunas bestimmt, diese drei Eigenschaften der Natur bilden die Illusion wie Fäden (=Guna) aus denen sie gewoben ist. Es gilt zu erkennen, dass alles Erfahrbare von diesen Kräften dominiert wird und das Göttliche jenseits davon ist. Richten wir uns auf das wahre Selbst oder das höchste Göttliche aus, können wir erkennen.
Der italienische Vedanta-Meister Rafael sagt:
Das Selbst (atman) kennt das Gesetz der Maya. Es verwendet, sich auf der Manifestationsebene befindend, die M. in völliger Freiheit, indem Es mit ihr spielt (lila), ohne sich von ihr überwältigen zu lassen. Da das Selbst (atman) außerdem der Zeuge ist, kann Es auf die Bewegung der Maya einwirken und die Erscheinung auflösen.“
Und darin liegt der Schlüssel zum Verständnis des Konzeptes. Haben wir erkannt, dass wir immer der Atman sind, brauchen wir uns nicht mehr in den Fängen der Illusion zu verlieren und können mit ihr spielen. Abschließend noch einige Zitate berühmter Menschen.
Salvador Dali:
„Eines Tages wird man offiziell zugeben müssen, dass das, was wir Wirklichkeit getauft haben, eine noch größere Illusion ist als die Welt des Traumes“
Wilhelm Busch:
„Kein Ding sieht so aus, wie es ist.“
Ludwig Börne:
„Einen Wahn verlieren macht weiser als eine Wahrheit finden.“
Fidel Castro:
„Ich habe versucht, die Welt zu verändern. Aber es ist eine Illusion.“