In den folgenden Versen beginnt Patanjali die überbewussten Zustände zu Beschreiben. Zuvor hatte er in den Versen 17 und 18 zwischen zwei Arten von Samadhi unterschieden: Überbewusstsein mit und ohne bedingter Erkenntnis.Nun unterteilt das Patanjali Yoga Sutra die niedrigeren Zustände noch etwas detaillierter in vier Arten, die ich hier nochmal anders vorstellen möchte, so wie Sukadev es interpretiert:
- savitarkā = Identifikation mit dem Physischen Universum in Raum und Zeit
- nirvitarkā = Identifikation mit dem Physischen Universum als organisches ganzes, jenseits von Raum und Zeit
- savicārā = Identifikation mit dem kosmischen Gemüt und seinen Veränderungen
- nirvicārā = Jenseits aller Veränderungen, Kosmisches Gemüt als Ganzes
Letztlich ist jede Meditation auf ein Objekt in eine der 4 Kategorien einteilbar. Die ersten beiden haben mit groben Objekten zu tun, die anderen beiden mit subtilen.
Diese Verse sind recht abstrakt, machen jedoch sehr viel Sinn, wenn man in höheres Bewusstsein eintaucht.
Samadhi Pada, Vers 42, Patanjali Yoga Sutra
1.42. तत्र शब्दार्थज्ञानविकल्पैः संकीर्णा सवितर्का समापत्तिः
tatra śabdārtha-jñāna-vikalpaiḥ saṁkīrṇā savitarkā samāpattiḥ
tatra = darin da, in ihm, diese
śabd = Wort, Klang, Geräusch
ārtha = Bild, Objekt, Wahrheit, Sinn, Zweck
jñāna = Wissen, Erkenntnis
śabda-ārtha = Wissen durch aussagen anderer
śabda-jñāna = Wissen durch Schlussfolgerung
vikalpaiḥ = durch Einbildung, Vorstellung
saṁkīrṇā = vermischt, verwirrt, gemischt
savitarkā = durch fremdes Wissen, durch Annahme, von Nachdenken begleitet
samāpattiḥ = genaue Erkenntnis, genaues Treffen, Zusammentreffen, Erreichen, Vollenden
“Dieser Zustand mit beigemengtem Hörensagen-Wissen, Schlussfolgerungs-Wissen oder Imagination ist vom Nachdenken begleitete Vollendung.”
oder
“Wenn diese Betrachtung eine Vermischung der Vorstellungen von Wort, Sinn und Erkenntnis enthält, ist sie eine Meditation mit Gedanken verbunden.”
savitarkā-samāpattiḥ gilt als eine der niedrigen Zustände von Überbewusstsein. Dieser Samadhi ist mit Objekten und Vorstellungen verbunden. Das Bewusstsein löst sich zwar von den Objekten und geht in das Überbewusstse ein, ist jedoch noch verbunden mit den Erscheinungen der Welt. Es gehört noch zu den Zuständen von saṁprajñāta, also Überbewusstsein mit bedingter Erkenntnis, wie durch Patanjali in Vers 17 erläutert. In diesem Zustand sind wir noch mit den Objekten verbunden, ohne ganz zu verschmelzen, wie in Vers 41 erläutert. Es wird ein Wort oder Name mit dem Objekt verbunden, es wird eine Bedeutung oder Identität zugeordnet, oder es wird Wissen bzw. Vorstellungen im Bezug zum Objekt abgerufen. Letztlich ist ja das Ziel des Raja Yoga bzw. der spirituellen Selbstverwirklichung, sämtliche Identifikationen und Verbindungen mit Objekten der Wahrnehmung aufzulösen, und nur das reine Bewusstsein zu erfahren. So taucht der Übende in diesem Zustand zwar in das Überbewusste ein, ist aber noch mit groben Objekten verbunden. Es geht hier genau genommen noch nicht um Samadhi, sondern um Vorstufen davon. Das was Patanjali als samāpattiḥ beschreibt. Wörtlich bedeutet es “Zusammentreffen”, also Alltags-Bewusstsein trifft auf Überbewusstsein und verschmilzt durch die vier Stufen miteinander. savitarkā in diesem Vers ist also die gröbste Stufe und knapp gesagt von Nachdenken begleitet.
1.43, Patanjali Yoga Sutra
1.43. स्मृतिपरिशुद्धौ स्वरूपशून्येवार्थमात्रनिर्भासा निर्वितर्का
smṛti-pariśuddhau svarūpa-śūnyeva-arthamātra-nirbhāsā nirvitarkā
smṛti = Erinnerung, Gehörtes
pariśuddhau = gereinigt, geläutert, abgewaschen
svarūpa = eigene Form, eigene Natur
śūnyeva = wie leer, erloschen
arthamātra = nur, allein: Objekt, Bild, Wahrheit
nirbhāsā = leuchtet, strahlt
nirvitarkā = ohne Einwirkung, ohne fremdes Wissen, nicht erwägend
“Wenn alle Vorprägung gereinigt, die eigene Natur klar ist, dann leuchtet nur das betrachtete Objekt selbst. Dies ist Nirvitarka-Samapatti.”
oder
“Im höheren Überbewusstsein ist der Geist frei von Subjekt-bezogenheit sowie früheren Eindrücken und reflektiert so die Wirklichkeit ohne Einwirkung.”
Auch hierbei handelt es sich auch noch um einen saṁprajñāta Zustand. Man verschmilzt schrittweise mit dem reinen Bewusstsein und geht nicht plötzlich in asaṁprajñāta, den höchsten Zustand, wie bereits erläutert. Die Wirklichkeit, also das Objekt der Meditation, erscheint nun also völlig klar und ohne Färbungen. Es werden nicht wie bei savitarkā noch Eindrücke aus Wort, Form, Bedeutung und Vorstellungen beigemischt. Wenn wir aufgehört haben zu Denken und zu Bewerten, erfahren wir die direkte Wirklichkeit der Objekte und können über diese Meditieren. Es liegt in der Natur des unerwachten Geistes, alle Wahrnehmungen zu Färben und einzuordnen. Um zu funktionieren in der Welt, ist dies auch eine sinnvolle Eigenschaft. Wollen wir jedoch in tiefere Schichten des Bewusstseins eintauchen und die Welt unmittelbar wahrnehmen wie sie ist, müssen wir uns von dieser Gewohnheit des Geistes lösen. Jede “Vorstellung” ist etwas, was wir “vor uns Stellen” und dadurch nicht sehen was wirklich ist. In diesem samāpattiḥ Zustand, der nirvitarkā genannt wird, haben wir uns von den Begrenzungen in savitarkā gelöst. Wir sehen die Objekte wie sie sind. Mehr uns mehr diffundieren wir mit dem reinen Bewusstsein, jenseits aller Konzepte, Programmierungen und Begrenzungen.
1.44, Patanjali Yoga Sutra
1.44. एतयैव सविचारा निर्विचारा च सूक्ष्मविषय व्याख्याता
etayaiva savicārā nirvicārā ca sūkṣma-viṣaya vyākhyātā
etayaiva = auch dadurch, sogar durch dieses
savicārā = mit Untersuchung, fremdes Wissen, Überlegung
nirvicārā = ohne Untersuchung, fremdes Wissen, Überlegung
ca = und
sūkṣma = subtil, feinstofflich, schmal, dünn, unfassbar
viṣaya = Objekt
vyākhyātā = erläutert, beschrieben, erklärt
“Betrachtet das Subjekt ein subtiles Objekt, so sind es ebenso zweierlei Zustände, mit und ohne Überlegung.”
oder
“Dadurch werden auch die nächsten beiden Zustände deutlich, die sich von selbst oder durch Erwägungen auf etwas feinstoffliches ausrichten.”
Hier macht Patanjali also nochmal die gleiche Einteilung, nur das sich der Zustand auf ein subtiles Objekt bezieht, statt wie zuvor auf ein grobes. Dabei ist savicārā mit Überlegung, Erwägung, in-Betracht-Ziehung, Prüfung, Untersuchung- und nirvicārā ohne. Wir sind also in den Versen 42 und 43 in den groben Objekten der Wahrnehmung von der Identifikation und Bewertung zur Loslösung gekommen, um uns nun feinstofflicheren Objekten zuzuwenden. Diese Begrifflichkeiten der vier Arten von samāpattiḥ sind zum einen als Zustände der tiefen Meditation zu verstehen, zum anderen auch als Anleitung zur Versenkung nach innen. Schrittweise lösen wir uns von groben und dann feinen Objekten der Wahrnehmung, indem wir jede Bewertung und Identifikation auflösen. Der Meditierende ist bei savicārā in einem Stadium in dem der Geist basiert ist auf von Sinneswahrnehmung und Denken gegründetem Wissen. Löst sich diese auf, kommt man zu nirvicārā. Oder um Sukadevs oben genannter Einteilung zu folgen, geht es bei diesen beiden Stadien zunächst in savicārā um die “Identifikation mit dem kosmischen Gemüt und seinen Veränderungen”. Wir identifizieren uns mit dem universellen Geist, die alldurchdringende Ebene von universellen Gedanken und Gefühlen, jenseits der Individuellen Erfahrungen. Allerdings eben zunächst noch mit Analyse des erlebten. Im nächsten Stadium welches nirvicārā genannt wird, überschreiten wir diese Begrenzung und erfahren “das kosmische Gemüt als ganzes, jenseits aller Veränderungen”. Tauchen also in die Erfahrung des Subtilsten ein, ohne es zu bewerten (was ein niedrigeres Stadium ist) oder damit zu verschmelzen (was dann das höhere Stadium bedeutet).
1.45, Patanjali Yoga Sutra
1.45 सूक्ष्मविषयत्वम्चालिण्ग पर्यवसानम्
sūkṣma-viṣayatvam-ca-aliṇga paryavasānam
sūkṣma = subtil, feinstofflich
viṣayatvam = das Objekt sein
ca = und
aliṇga = unmanifest, undefinierbar,
paryavasānam = begrenzt, bis dahin gehend
“Ein Objekt der Betrachtung kann bis zum Undefinierbaren subtil sein.”
oder
“Samadhi ausgerichtet auf das Subtilste erstreckt sich bis zum unmanifestierten.”
Richten wir unseren Geist auf etwas höchst subtiles aus, wird er so weit wie das unmanifeste sein. Die feinstofflichste Manifestation ist das Bewusstsein, und ist dem Überbewussten ganz nah. Wenn wir uns auf das Subtilste ausrichten, werden wir uns dem Jenseitigen nähern.
Hier wird es Zeit, die Grundlage der Samkhya- Philosophie einzuführen, auf welche die Lehre von Patanjali aufbaut. Samkhya ist eines der klassischen Darshanas, Philosophie Systeme des Hinduismus, es ist duales philosophisches Konzept, welches trennt zwischen:
Purusha & Prakriti
- Prusha = das absolute Bewusstsein, die Urseele, der ewige, metaphysische Weltgeist, der unveränderlich ist, das kosmische Selbst, Subjekt.
- Prakriti = die Natur, das Benennbare, sich Manifestierende, das Wahrnehmbare, das ursächliche Entstehen, Ursprung der Materie, Objekt
Oder hier zur besseren Erklärung nochmal eine Tabelle die ich auf www.jyotish.de gefunden habe.
Bewusstsein Materie
Absolut Relativ
Männlich Weiblich
Unveränderlich Veränderlich
Sein Nichtsein
Realität Schein
Eines Vieles
Stille Aktivität
Potential Verwirklichung
Subjekt Objekt
Erkenner Erkanntes
Feld-Kenner Feld
Und so ist die Erfahrung des Purusha zugleich das Erreichen des höchsten Bewusstseins. Alle Stadien zuvor, haben noch mit der Verwicklung in die Prakriti zu tun. Je mehr wir uns in der Meditation auf immer subtilere Objekte ausrichten, desto näher kommen wir dem unmanifesten. Und stellen dann fest, dass es nur eines gibt, und uns die Welt zuvor nur als dual oder getrennt erschienen ist. Durch die vier Stadien von samāpattiḥ hindurch, lösen wir uns immer mehr von Prakriti um uns vom Subtilsten aus auf Purusha zu richten.
Sriram sagt:
“Das Unbenennbare ist die Grenze dafür und kann auch noch Objekt der Betrachtung sein.”
1.46, Patanjali Yoga Sutra
1.46. ता एव सबीजस्समाधि
tā eva sabījas-samādhiḥ
tā = diese, jene
eva = nur, auch, sogar, allerdings, wohl,
sabījas = mit Samen, Quelle, Kern, Thema
samādhiḥ = Überbewusstsein, vollkommene Erkenntnis
“All diese vier Bewusstseinszustände sind Ursächlich oder mit Samen.”.
oder
“Diese vier Arten von samāpattiḥ sind Überbewusstsein bezogen auf ein Thema.”
Es geht also bei diesen Zuständen immer um die Ausrichtung auf Objekte, also um Erfahrungen mit der Prakriti. Diese Stadien der Entwicklung haben alle noch Verbindungen mit der Welt der Erscheinungen, das Selbst jedoch ist im Grunde losgelöst von den Wahrnehmungen. Erst wenn wir uns von der Praktiti ganz lösen, also auch vom Subtilsten, können wir Purusha ganz erfahren. Und wenn die Erfahrung oder Wahrnehmung noch so subtil ist, Objekte sind immer Prakriti. Das höchste, Absolute Purusha ist das Subjekt, der Wahrnehmende oder die Wahrnehmung selbst. Zwar sind die genannten Zustände bereits sehr, sehr tiefe Erfahrungen, die den meisten Menschen aufgrund mangelnder Bereitschaft zur Disziplin unerschlossen bleiben, jedoch will Patanjali mehr. Er will eine Landkarte bieten um bis zum höchsten Bewusstsein zu kommen. Und so können diese Verse, so abstrakt sie auch dem Leser erscheinen mögen, dem spirituellen Aspiranten eine sehr konkrete Hilfe sein auf dem Weg. Es ist wichtig immerwieder genau zu Prüfen wo man steht und wie es weiter geht. Und so sind diese Verse für den weit Entwickelten Yogi Gold wert! Zu wissen, dass solange man in der Meditation noch auf ein Objekt ausgerichtet ist, und sei es noch so fein, man noch tiefer gehen muss, ist wichtig! Letztlich ist auch ein Gedanke des Neo-Vedanta diesem Vers sehr nah. So sagt zB Jiddu Krishnamurti:
“Du kannst nichts tun um das höchste Ziel zu erreichen,
aber wenn du nichts tust, wirst du es nie erreichen!”
Also jede spirituelle Übung findet immer in der Prakriti statt, das höchste Ziel ist aber das Erreichen von Purusha. Man kann sich nicht an den eigenen Haaren aus dem Schlamm ziehen. Letztlich ist das Erreichen von Purusha immer ein Akt der Gnade. Sozusagen das Göttliche was uns an den Haaren aus der Prakriti herauszieht…
Können wir dann selbst etwas tun um zur Verwirklichung zu kommen? Die Neovedantins sagen gerne: “Du kannst nichts tun ausser bewusst zu Sein”, jedoch sagen die Yogis, dass es wichtig ist sich innerhalb der Prakriti zu ent-wickeln.
Ich sage beides braucht es: Sein und Werden, Abhyasa und Vairagya!
Soweit meine Interpretation der Verse 42-46 des 1. Kapitels des Patanjali Yoga Sutra.