Der Begriff „Sadhana Chatustaya“ bedeutet übersetzt die „praktischen Mittel um zur Befreiung zu kommen“ oder „die Eigenschaften die zum Erwachen führen“.
Sadhana Chatustaya- Qualifikationen
Das Modell ist uralt, man sagt es sei so alt wie die Veden. Ausformuliert findet man dieses Modell in Adi Shankaracharyas Texten „Viveka Chudamani“ und „Tattwa Bodha“, und es gilt als wichtigste Basis auf dem Weg der Erkenntnis, dem was als Jnana Yoga bezeichnet wird. In diesem Weg zur Befreiung, der die Konzepte des Advaita Vedanta nutzt um jegliche Konzepte zu überwinden, ist das Ziel die Natur des Selbst zu erkennen. Also nicht sich irgendwohin durchzukämpfen um das ferne Ziel der Erleuchtung in weiter Zukunft vielleicht zu finden, sondern zu realisieren: ich bin das Selbst. Dazu braucht es zwingend die Eigenschaften, die ich dann etwas genauer erläutern möchte.
Swami Sivananda sagt zu Sadhana Chatustaya:
„Ein Schüler auf dem Weg zur Wahrheit muß sich mit den vier Mitteln zu Befreiung, dem Sadhana Chatushtaya, ausstatten. Nur dann kann er ganz furchtlos den Weg beschreiten. Kein Jota spirituellen Fortschritts ist je möglich, wenn man nicht tatsächlich diese vierfache Qualifikation hat.“
Letztlich ist die Lehre des Advaita Vedanta ganz simpel. Schwierig ist es nur sie praktisch umzusetzen. Und so fasst man gerne die Weisheit zusammen mit dem Satz:
„In drei Sätzen sei es verkündet, was man in Tausend Büchern findet, Brahman ist wirklich, die Welt ist Schein, das Selbst ist nichts als Brahman allein.“
Aber da wir uns nicht einfach so auf das höchste Bewusstsein ausrichten können, braucht es viele Stützen und Modelle um dort hin zu gelangen.
Der Grund warum wir nicht einfach die Wahrheit erkennen ist übrigens dreifach:
- Unser Karma muss noch ausgearbeitet werden.
- Wir stecken in Mustern fest.
- Wir haben einen Mangel an spiritueller Kraft.
Die 4 Punkte des Sadhana Chatustaya sind:
- Viveka: Die Unterscheidungskraft oder die Fähigkeit Wahrheit zu differenzieren
- Vairagya: Die Losgelöstheit, das nicht Anhaften, die Leidenschaftslosigkeit
- Shatsampat: Edle geistige Tugenden die es zu kultivieren gilt.
- Mumukshutwa: Der unbedingte Wunsch zur letztendlichen Befreiung zu kommen
Die Sechs Tugenden welche Shatsampat genannt werden sind im einzelnen:
- Sama: Gleichmut, Pflegen der inneren Ruhe und Ausgeglichenheit, Zufriedenheit, Rationale Kontrolle des Geistes
- Dama: Sinnes Beherrschung, konstruktiver Umgang mit den Wahrnehmungs- sowie Handlungsorgane, Selbstkontrolle,
- Uparati: Nach innen Ausrichten, in der Gegenwart ruhen
- Titiksha: Duldungskraft, Nachsicht und Toleranz gegenüber Erfahrungen
- Shraddha: Glaube, Vertrauen in den eigenen Weg
- Samadhana: Geistesruhe, Ausrichtung auf das Geistige Ziel, Einpünktigkeit
Nun möchte ich dieses Model des Sadhana Chatustaya noch etwas genauer beschreiben, ich denke es macht viel Sinn diese Punkte in das Alltagsleben zu integrieren. Im Vedanta gibt es keine Technik, keine Methode die uns zum Ziel der Erkenntnis führt, außer das Fühlen und Erkennen der Wahrheit. Dieses Modell dient der groben Orientierung auf dem Weg ohne Ziel und soll eine Stütze sein um sich einzulassen auf das nonduale Bewusstsein wo das Individuum mit allem was ist verschmilzt. In dem Zustand der Erkenntnis werden Subjekt, Objekt und Wahrnehmungsprozess zu einer Einheit. Wir sind dann das, was wir schon immer wahren, jedoch nie erkennen konnten…
Sadhana Chatustaya im Einzelnen
1.Viveka:
Die Unterscheidungskraft ist eine Eigenschaft die wir in uns erwecken und pflegen müssen. Es geht hier um die ganz konkrete Differenzierung zwischen philosophischen Grundannahmen die die Basis des Vedanta bilden. Swami Sivananda sagt: „Der Suchende sollte zwischen dem Geist und dem Zeugen, der den Geist bewegt und erleuchtet, unterscheiden, zwischen Gefühlen und dem vollkommenen Gewahrsein reinen Bewusstseins, welches stets unberührt und ungebunden ist.“
Konkret geht es um die Unterscheidung zwischen 4 Dingen:
Satasat Viveka Die Unterscheidung zwischen dem was wirklich ist und dem unwirklichen, bzw. dem was wahr ist und dem was unwahr ist, oder dem was ist und dem was scheint. Im Vedanta sagt man, nur das ist wahr und wirklich was unveränderlich und ewig ist. Dies wird als Brahman bezeichnet, alles andere, also das was wir wahrnehmen können, wird Maya genannt, der Schein. Zwar ist unsere Welt irgendwo auch wirklich, aber das dem zugrundeliegende offenbart sich dem Erkennenden als die wahre Wirklichkeit.
Atmanaatman Viveka Die Unterscheidung zwischen dem Selbst und dem Nicht-Selbst, zwischen dem was man das alldurchdringende kosmische Bewusstsein oder den wahren Wesenskern nennt und dem was es nicht ist. Der Begriff Brahman ist etwa das, was wir als Gott verstehen können. Das alldurchdringende kosmische Bewusstsein jenseits aller Formen, Vorstellungen und Eigenschaften, welches allem zugrunde liegt und allem übergeordnet ist. Das Selbst wird als Atman bezeichnet ist identisch mit Brahman, nur der Sinnzusammenhang ist ein anderer. Brahman ist im Bezug zum Makrokosmos, Atman im Bezug zum Mikrokosmos. Wollen wir die Wirklichkeit erkennen, müssen wir unterscheiden zwischen Selbst und Nicht-Selbst.
Nityaanitya Viveka Die Unterscheidung zwischen dem was ewig und unveränderlich ist, und dem was endlich und Veränderungen unterworfen ist oder zwischen dem was temporär und dem was permanent ist. Um die allem zugrundeliegende Wahrheit zu erkennen, müssen wir negieren was unwahr ist. Unwahr im vedantischen Sinne ist alles, was sich verändert. Also letztlich alles was wir wahrnehmen können ist vergänglich und damit nicht der Urgrund, Brahman, Sat-Chid-Ananda, also Sein, Bewusstsein und Glückseeligkeit.
Sukhaananda Viveka Die Unterscheidung zwischen der Freude aus dem Selbst und der Freude aus Objekten, zwischen der wunschlosen und der bedingten Freude. Die Erfahrung des Selbst birgt absolute und bedingungslose Freude die einfach existiert. Ohne einen besonderen Grund der von Umständen abhängig ist wird diese höchste Freude erfahrbar, wenn wir unterscheiden lernen zwischen dieser, und der Freude die in den Objekten liegt. Wenn wir einfach nur sind, und uns Selbst erfahren, erleben wir diese Freude die immer größer werden kann, solange wir uns nicht wieder auf Objekte ausrichten.
Es wird empfohlen sich zunächst auf eines der 4 Vivekas auszurichten, und zwar das welches am meisten Sinn macht. Durch das Entwickeln von Viveka kommt automatisch dann Vairagya.
2.Vairagya:
Der Begriff Vairagya ist, wie so viele Worte aus dem Sanskrit, nur sehr schwer zu übersetzen. In etwa ist es: Losgelöstheit, Nicht-Anhaften an Objekten, Wunschlosigkeit, Verhaftungslosigkeit, Leidenschaftslosigkeit. Mit hilfe der Viveka, der Basis der Sadhana Chatustaya, soll man sich also von den Objekten der Begierde und denen der Abneigung lösen. Dadurch kommt man nach und nach zur Erfahrung des Selbst. Es geht darum zwar in der Welt zu leben, ihr also nicht zu entsagen, jedoch innerlich nicht abhängig von ihr zu sein. Vairagya kann nicht erzwungen werden, es entwickelt sich von selbst durch Viveka. Die Bedingung für Vairagya ist letztlich das Erkennen der Sinnlosigkeit der weltlichen Orientierung im Leben, was nicht heißt, dass wir uns nicht am „Duft der Blumen am Wegesrand“ erfreuen sollen, wir sollen nur unabhängig davon sein. Es gibt die beiden Hauptströmungen des Geistes, die als Raga-Dvesha bezeichnet werden: Das was ich unbedingt haben will und das was ich ablehne. Vairagya ist die Kunst neutral diese beiden Kräfte zu beobachten. Im Wort „Vairagya“ Steckt einerseits „Raga“- „Färbung, Gefühl, Anziehung“ und andererseits „Vai“- „austrocknen, ausdünnen“- es geht also darum die Zuneigungen aufzulösen und zum unmittelbaren Sein im Hier und Jetzt zu kommen.
Swami Sivananda sagt hierzu: „Es gibt einen Weg zur unsterblichen Wohnstatt. Es gibt einen Weg zum höchsten Glück. Es gibt einen Weg zur vierten Dimension. Dieser Weg ist Vairagya. Gehe den Weg.“
Patanjali nennt Vairagya auch in seinen Yoga-Sutras als essentiell, bringt sie jedoch als einen Begriff ,der mit Abhyasa, der Anstrengung gepaart sein sollte. Hierzu habe ich einen Artikel verfasst der die entsprechenden Verse der Sutras kommentiert.
In der Bhagavad Gita, IV.24.-26. sagt Krishna zu Arjuna: „Er möge vorbehaltlos alle Wünsche, die durch die Vorstellung des Geistes entstanden sind, aufgeben, insgesamt alle Sinne nach allen Seiten zügeln und auf diese Weise allmählich Ruhe erlangen mittels der Vernunft, die durch Beständigkeit kontrolliert wird; nachdem der Geist dazu gebracht wurde, im Selbst zu ruhen, denke er an nichts anderes. Immer wenn der schwankende und unstete Geist davon strebt, bringe er ihn unter die Kontrolle des Selbst.“ Er bezieht sich also ganz klar auf Viveka und Vairagya, nennt dann aber auch klar die anderen Punkte des Sadhana Chatustaya.
3.Shatsampat:
Grundsätzlich sollten wir uns auf dem spirituellen Weg um die Kultivierung von konstruktiven oder positiven Tugenden bemühen. Die Entwicklung von Ethik und Moral spielt in allen Traditionen die auf Selbstverwirklichung ausgerichtet sind eine große Rolle. Für den Weg der Erkenntnis hat Adi Shankaracharya die wichtigen Tugenden sehr klar definiert. Diese sechs einzelnen begriffe werden zusammengefasst, weil sie alle um eines gehen: Disziplin und die Kontrolle des Geistes.
Sama:
Der Begriff meint Gleichmut oder das ausrichten auf die innere Ruhe. Dies geschieht durch ein konstantes auflösen der Denkmuster, so Shankara in „Aparoksha Anubhuti“. Der Geist wird auf das Herz ausgerichtet und wird nicht nach außen geleitet. Swami Sivananda: „Der Geist wird in der Quelle festgehalten.“, also ihm wird bei dieser Tugend nicht erlaubt über die Wahrnehmungsorgane oder Handlungsorgane nach außen zu gehen. „Wenn ein Mensch in Sama fest verwurzelt ist, kommt Dama, die Kontrolle der Indriyas, von selbst.“
Dama:
Im 23. Vers des Viveka Chudamani sagt Shankara: „Dama, Selbstbeherrschung heißt, das Festhalten der Sinne und Sinnesorgane in den betreffenden Zentren, indem man sich von den zahllosen Gegenständen der Sinneswahrnehmung abwendet.“ Es geht also um Sinnes Beherrschung oder einen konstruktiven Umgang mit der Wahrnehmung, also die Beherrschung der Jnana-Indriyas, der Wahrnehmungsorgane. Wenn wir mit den Sinnen etwas Begehrenswertes erfassen, zB den Geruch von Pommes, sollten wir uns konsequent nach innen wenden. Swami Sivananda sagt: „Man darf ihnen (den Sinnesorganen) nicht gestatten, in den Furchen der Sinne ungestüm herumzulaufen. Sie dürfen uns nicht rücksichtslos in das tiefe Loch der Weltlichkeit werfen, sowie das ungestüme Pferd den Reiter hinträgt, wo es will.“
Uparati:
Es ist das vehemente aber natürliche Abwenden des Geistes vom Wunsch nach Sinnesvergnügen. Dieses wird nicht erzwungen sondern soll sich harmonisch entwickeln. Shankara sagt hierzu im Viveka Chudamani: “Das beste Uparati, Abstandnehmen, besteht darin, dass die Geistfunktionen aufhören, durch äußere Objekte wirksam zu werden.” Die sechs Tugenden entwickeln sich harmonisch eines nach dem anderen.
Titiksha:
Und wieder möchte ich hierzu Shankara zitieren, aus Viveka Chudamani: “Das Ertragen von Anfechtungen, ohne sich um ihre Beseitigung zu kümmern, und das gleichzeitige Freisein von Furcht oder Wehklagen über sie, heißt Titiksha, Duldungskraft“. Es geht also um das gleichmütige ertragen aller Arten von Ereignissen, wobei Gleichmut nicht zu verwechseln ist mit Gleichgültigkeit.
Shraddha:
Klarer kann man es wohl nicht zusammenfassen wie Swami Sivananda: „Shraddha ist festes Vertrauen in die Worte des Gurus, die Aussagen der vedantischen Schriften und, vor allem, in sich selbst. Das ist nicht blinder Glaube. Er basiert auf genauem Überlegen, Offensichtlichkeit und Erfahrung. Nur dann kann der Glaube dauerhaft sein. Nur dann kann der Glaube vollkommen und unerschütterlich sein.“
Samadhana:
Das Ergebnis der zuvor genannten 5 Tugenden ist dann Samadhana. Shankara: „Samadhana ist dauernde gedankliche Konzentration auf die ewige, reine, absolute Wirklichkeit, nicht aber der freie Lauf der Gedanken.“ Es wird also die Ausrichtung auf das Geistige Ziel gelernt. Swami Sivananda sagt: „Es ist das Festhalten des Geistes auf Atman, ohne ihm zu erlauben, sich Objekten zuzuwenden und seinen eigenen Weg zu gehen.“
4.Mumukshutwa:
Die Sehnsucht nach Verwirklichung oder der unbedingte Wunsch zur Befreiung zu kommen wird als Mumukshutwa bezeichnet. Adi Shankaracharya sagt hierzu im 27.Vers des Viveka Chudamani: „Mumukshutva, ist der brennende Wunsch, sich durch Erkenntnis des ureigenen Wesens von den Fesseln, wie Ichbezogenheit und Körperverhaftung, zu befreien, die aus Unwissenheit entstanden sind.“ Also kurzum: Nur wer wirklich will wird die Befreiung erlangen! Jedoch kann man, und den Fahler machen wohl viele, dieses Modell nicht auf diesen starken Wunsch reduzieren. Im Vedanta sagt man, Fortschritt geschieht wenn drei Dinge zusammenkommen: Iccha, Kriya und Jnana= Wollen, Handeln und Erkennen. Also nur durch wollen alleine kommen wir nicht weiter. Swami Sivananda sagte hierzu mal, dass die Selbstverwirklichung eine Sache von Angebot und Nachfrage sei. Nur wenn die Nachfrage groß ist, wird ein Ergebnis da sein.
Es gibt die Geschichte von Swami Vivekananda, der seinen Meister Sri Ramakrishna nach dem begriff Mumukshutwa fragte. Dieser sagte, es sei nicht so wichtig. Swami Vivekananda hat noch mehrmals nach dem Begriff gefragt, und bekam immer die Antwort er solle sich um wichtigeres kümmern. Eines Tages waren die beiden Yogis dann zusammen am heiligen Ganges um ein rituelles Bad zu nehmen. Als Swami Vivekananda gerade untertauchte griff Ramakrishna ihn an den Hals und drückte ihn mit aller Gewalt auf den Boden des Flusses. Swami Vivekananda drohte zu ersticken und zappelte nach Luft strebend im Wasser. Als es fast schon zu spät war löste Ramakrishna den Griff und lies ihn sich wieder erholen. Dann befragte der Lehrer seinen Schüler: Wie war es als du ohne Luft im Wasser warst? Was für Wünsche hattest Du? Wonach richteten sich deine Gedanken aus? Und sagte dann etwa: „So sehr wie du gerade nach Luft gestrebt hast, so stark wie du dir gewünscht hast zu atmen, so stark muss auch dein Wunsch nach Befreiung sein, sodass sich jeder andere Wunsch auflöst!“ Diese Lehrmethode ist sicher sehr rabiat, aber ich denke es verdeutlicht auch dem Leser die Wichtigkeit von Mumukshutwa.
Soweit meine Erläuterung des Sadhana Chatustaya. Möge es dem Leser helfen zu unterscheiden, loszulassen, sich zu entwickeln und nach dem höchsten zu streben!