Hingabe an Gott ist ein wesentlicher Aspekt in Patanjalis Lehre, auch wenn er Gott nicht weiter definiert. In den folgenden Versen des Yoga Sutra betont Patanjali die Wichtigkeit der Hingabe an Gott bzw. eine höhere Macht, oder eben an ein persönliches Konzept von Gott. Er vermittelt also hier einen weiteren Weg zur Beruhigung der Geistesinhalte, dem Ziel des Raja Yoga.
Zwar bezieht sich Patanjali viel auf das Philosophische System des Samkhya, welches ohne ein Konzept von Gott auskommt, jedoch ist die Einführung von “Ishvara” der wesentlich Unterschied zum Samkhya.
Vers 1.23 Yoga Sutra – Hingabe an Gott
1.23. ईश्वरप्रणिधानाद्वा
īśvara-praṇidhānād-vā
Îshwara = Gott, Gott mit Eigenschaften, Gott aus sicht des Menschen
pranidhânât = durch fromme Hingabe, Selbstaufgabe, Ehrfurcht
vâ = oder, auch
“Oder durch Hingabe an Gott (Kommen die Bewegungen des Geistes zur Ruhe).”
oder
“Auch durch Hingabe an ein ideal gedachtes Wesen (kann das Ziel erreicht werden).”
In der Yoga Philosophie wird im allgemeinen (und im Advaita Vedanta im besonderen) zwischen Brahman und Ishwara unterschieden. Brahman ist das alldurchdringende kosmische Bewusstsein jenseits von Formen, Eigenschaften und Beschreibbarkeit. Also das Göttliche, das Absolute welchem wir mit keinen Worten gerecht werden können. Mit Ishwara ist dann das Götliche aus der Sicht unseres beschränkten Bewusstseines gemeint. Also Gott mit Eigenschafften, oder eine persönliche Form des Göttlichen.
Um es mit Swami Vivekanandas wunderschönen Worten zu sagen:
“Ishvara verkörpert den höchsten Begriff, den der menschliche Geist erfassen und das menschliche Herz lieben kann.”
Hier bringt also Patanjali den Bhakti Aspekt mit in den Yoga Sutra. Bhakti bedeutet Hingabe an Gott bzw. Demut gegenüber dem Göttlichen. Es gilt als der einfachste Weg zu Gott bzw. zum Selbst und bedarf keiner besonderen Fähigkeiten, ausser dem Wunsch sich dem Göttlichen ganz Hinzugeben. “Dein Wille geschehe!” heißt es im Christentum und dies beschreibt letztlich genau was Patanjali sagt: Durch Hingabe an Gott kommst du zum Ziel! Dies bedeutet im Grunde genommen, dass wir die Kontrolle loslassen, Vertrauen entwickeln und uns ganz im Fluss der Zeit fallen lassen. Dann wird unser Bewusstsein in eine höhere Erfahrung der Wirklichkeit eintauchen, die jenseits unseres Alltagsbewusstseins ist.
1.24, Patanjali Yoga Sutra
I.24. क्लेश कर्म विपाकाशयैःपरामृष्टः पुरुषविशेष ईश्वरः
kleśa karma vipāka-āśayaiḥ-aparāmṛṣṭaḥ puruṣa-viśeṣa īśvaraḥ
klesha = Leid, Elend, Ursache des Elendes
karma = Taten, Handlungen, resultierende Wirkungen
vipâka = Vollendung, Erfüllung, Wirkung der Handlung
âshayaih = Samenkeime in denen Wünsche schlummern, Erinnerung an Schmerz
aparâmristah = völlig unberührt
purusha = Seele, individuelle Einheit, höchstes Selbst, unberührtes Inneres
vishesha = besonders, aussergewöhnlich
Ishwarah = Gottheit, Gott mit Eigenschaften
“Ishwara ist individuell erfahrenes göttliches Bewußtsein, unberührt von Leid, Handlungen, Handlungsergebnissen oder Wünschen.”
oder
“Ishvara ist höchstes Bewusstsein mit Form, das unberührt ist von den Hindernissen des spirituellen Aspiranten, den bedingten Handlungen und Folgen oder Erinnerungen und Wünschen.”
Wir können erst das Göttliche in seiner wahren formlosen Essenz Erfahren, wenn wir uns ganz von der Welt der Erscheinungen gelöst haben. Brahman oder das eigenschaftslose Göttliche ist jenseits der Erfahrungen unseres gewöhnlichen Bewusstseins. Iswara hingegen können wir erfahren wenn wir unser Leiden überwunden haben, unser Karma aufgelöst haben und wunschlosigkeit Leben. Wir können an Ishvara wenden, Hingabe an Gott erfordert einen gott ausserhalb von uns. Dann erfahren wir Gott auf die Weise, die uns entspricht. Ein Himalayayogi, ein amerikanischer Urainwohner, ein Aboriginee und ein arabischer Wüstenvater wird dieses Göttliche seiner Natur entsprechend erfahren. Jeder auf die Art die im Kontext seiner vorherigen Vorstellungen, der Kultur und der Terminologie steht. Das ist das Prinzip von Ishwara: Gott aus Sicht des Individuums. Patanjali beschreibt nicht weiter den Begriff “Gott”. Lediglich die Vier zu überwindenden Faktoren werden erläutert. Diese vier genannten Aspekte binden uns an die wandelbare Welt und hindern uns daran Ishwara auf unsere Weise zu erfahren. Patanjali macht hier aber auch klar, dass er keinen persönlichen Gott meint, sondern ein Bewusstseinszentrum im Menschen. Dies ist eine Frage des Blickwinkels aus dem wir den begriff Ishwara sehen. Es ist sowohl Gott mit Form im Aussen, als auch das Selbst mit Eigenschaften im Inneren. Wenn wir das höchste Absolute Bewusstsein erfahren, wird das manifeste Universum und unsere Erfahrung ein getrenntes Wesen zu sein transzendiert.
1.25, Patanjali Yoga Sutra
1.25. तत्र निरतिशयं सर्वज्ञबीजम्
tatra niratiśayaṁ sarvajña-bījam
tatra = in Ihm, dort, darin
nir = nicht, verneinung, ohne
atishayam = das Höchste, Unübertroffene, überschreiten
sarvajna = der Allwissende, alles an Wissen
bîjam = der Samen, das Prinzip, Quelle
“In ihm liegt der Same der Allwissenheit.”
oder
“Er ist unübertroffen und Quell allen Wissens.”
Um zur höchsten Weisheit zu kommen können wir aus yogischer Sicht viele Wege nutzen, im groben sind es zwei: Entweder ganz nach Innen gehen und in tiefer Meditation das Selbst in der Stille erfahren. Oder uns öffnen für das Göttliche und es durch Hingabe an Gott in uns zum Ausdruck bringen. Wir können uns für eines entscheiden oder im ganzheitlichen, integralen Sinne beides üben. In der Vedanta- Philosophie, aus dessen Sicht ich die Welt und diesen Text interpretiere, ist das Selbst und das Göttliche identisch, nur der Kontext ist ein anderer. Und so werden wir bei beiden Wegen auf den “Quell der Weisheit” treffen. Mit Weisheit ist dann nicht gemeint, dass wir alle Fakten kennen. Sondern es geht um die Erfahrungsweisheit, einen geistigen Zustand den wir erreichen können und dadurch eine tiefe Einsicht in die Wirklichkeit haben. Je näher wir Gott sind, desto näher kommen wir der allem innewohnenden Wahrheit. Wir können zu Gott beten, an ihn Denken, uns Verneigen, seinen Namen Singen, uns immer wieder an seine Herrlichkeit erinnern, ihm in allem Dienen, ihm opfern… ganz egal wie wir uns ihm nähern, er ist die Quelle unserer Freude und unserer Weisheit. Und er wohnt in unserem inneren, wir brauchen uns nur zu öffnen für seine Herrlichkeit. Welche Form von Gott wir mögen, spielt letztlich keine Rolle! Ob wir an einen bärtigen mann auf der Wolke glauben, einen aschebeschmierten Asketen, einen Flötespielenden jüngling oder was auch immer wir für ein Konzept haben: Gott ist jenseits davon und die Form nur eine Brücke dorthin!
1.26, Patanjali Yoga Sutra
1.26. स एष पूर्वेषामपिगुरुः कालेनानवच्छेदात्
sa eṣa pūrveṣām-api-guruḥ kālena-anavacchedāt
sa = Er, jener
eṣa = dieser
pūrveṣām = von den Alten, von den Vorherigen, der Ersten
api = auch, sogar
guruḥ = Lehrer, beseitiger der Dunkelheit
kālena = durch die Zeit
anavacchedāt = unbegrenzt, unverändert, nicht gebrochen
“Unbegrenzt durch Zeit ist Er, ursprünglich, der Lehrer aller Lehrer.”
oder
“Ishvara ist Jenes und Dieses, der ursprüngliche Guru, unberührt von der Zeit.”
Gott ist also der erste, ursprüngliche und höchste Lehrer. Das Göttliche jenseits aller Formen und Eigenschaften drückt sich in Ishwara aus, und wirkt jenseits von Zeit und Raum. Es ist die Instanz des Universums, von dem das Licht der Erkenntniss ausgeht. Gott ist immer und überall, unberührt und jenseits der Welt der Erscheinungen. Es ist der Ursprung und der Urgrund von allem was ist. Gott oder das Göttliche ist identisch mit dem wahren Selbst, unserem Wesenskern. Es wirkt also seit Urzeiten in jedem von uns, durch jeden von uns und drückt sich in jedem Lehrer aus, der uns zur Erfahrung der Wirklichkeit führt. Yoga ist eine authentische und lebendige Tradition die seit Urzeiten von Lehrer zu Schüler weitergegeben wird. Sie lebt nicht von Büchern oder den Worten darin, sondern Yoga ist eine Erfahrungswissenschaft die immer weiter gegeben wird. Die Guru Parampara ist diese Übertragungslinie die letztlich zu Ishwara oder Gott selbst zurückgeführt wird. Jeder einzelne Lehrer der das Yoga authentisch weitergibt, ist durch Ishwara in seinem inneren inspiriert und gibt die Lehren seiner Übertragungslinie weiter. Hingabe an Gott ist der Schlüssel.
Soweit mein Kommentar zu den Versen 23-26 des Patanjali Yoga Sutra.