Geistige Macht und Klarheit: In diesen beiden Versen des Yoga Sutra schreibt Patanjali über die Vorzüge eines erwachten Geistes. Er erläutert, wie das Bewusstsein im Überbewusstsein wirkt und was die besonderheiten sind. Nachdem er zuvor genau beschrieben hat durch welche Methoden man über das gewöhnliche Bewusstsein hinauswachsen kann, und was auf dem Weg zu beachten ist, beschreibt Patanjali im folgenden wie das höher entwickelte Bewusstsein definiert werden kann.
Die Verse 33-39 stehen in direkter Beziehung zu den acht Gliedern des Raja Yoga, dem Ashtanga, also den Gliedern 1-7. Die beiden folgenden Verse beschreiben das 8.Glied: Samadhi.
Samadhi Pada, Vers 40, Patanjali Yoga Sutra
1.40. परमाणु परममहत्त्वान्तोऽस्य वशीकारः
paramāṇu parama-mahattva-anto-‘sya vaśīkāraḥ
paramāṇu = das kleinste Atom
parama-mahattva = der größte Kosmos, das ganze Universum
anto-‘sya = bis hin zu dessen, bis dahin erstreckend
vaśīkāraḥ = Kontrolle, Meisterschaft, Meisterung
“Die Meisterschaft (eines Verwirklichten), umfasst alles vom Atom bis zum Kosmos.”
oder
“Der erwachte Yogi Kontrolliert alles, vom Kleinsten bis zum Unendlichen.”
Wenn wir also das höchste Bewusstsein erreichen, stehen wir über allem was Manifest ist. Eine grosse Frage der Philosophen ist:
“Steht der Geist über der Materie, oder die Materie über dem Geist?”
Patanjali ist hier ganz Klar: Das höchste Bewusstsein steht über allem, vom Kleinsten bis zum Größten. Wir beherrschen mit unserem Geist die Materie. Letztlich tun wir das immer, auch wenn wir unbewusst sind. Jedoch können wir diese Kontrolle erst vollständig ausüben, wenn wir uns ganz von den Identifikationen mit den Objekten gelöst haben. Die Materie folgt dem Geist, je diffuser unser Geist ist, desto unklarer sehen wir die folgen in der Materie. Man weiß ja inzwischen, dass das Menschliche Bewusstsein auch ohne Gehirn sein kann. So zB löst sich der Geist bei manchen in einer OP, oder bei einem Autounfall, und man ist sich der Situation bewusst. Im spirituellen Weltbild gehen wir davon aus, dass sich das Universum aus dem Geist heraus Manifestiert hat, zuerst war das Bewusstsein, dann der Klang und später die Materie. Und so können wir uns auch aus den Ketten der Materie, des Wahrnehmbaren lösen und zum reinen Bewusstsein hin entwickeln. Durch die zuvor genannten Techniken können wir also die Meisterschaft über das manifeste Universum erreichen.
Swami Vivekananda sagt:
“Kein Hinderniss, weder klein noch groß, stellt sich dem Denken des Yogi in den Weg.”
Vom Subtilsten bis zum Komplexesten werden alle Bereiche des Lebens beherrscht. Man kann es so interpretieren, dass dem voll erwachten Yogi die Kontrolle über alles möglich ist. Jedoch denke ich eher es geht darum, das der Yogi sich mühelos auf alles ausrichten kann. Vom kleinsten, subtilsten Punkt im Inneren, bis zum grössten, weitesten ufassbarsten in der Welt. Der Fokus des Geistes kann auf alles gerichtet werden, und dann (wie Patanjali später beschreibt) mit den entsprechenden Kräften verschmelzen. Und es kann auch bedeuten, dass der Yogi sich mit allem vereint, vom kleinsten bis zum größten.
In der Avadhut-Gita des Weisen Dattatreya heißt es:
“Für mich existieren weder die elementaren Teilchen, noch existiert das ganze Universum. Brahman allein ist alles. Wo sind denn dann die Kasten und Zustände des Lebens? Ich erkenne immer alles Als die eine unsichtbare Realität. Dieses ungeteilte Eine setzt die Welt zusammen, Das Leere, den ganzen Raum und die fünf Elemente.”
Also wenn das höchste Bewusstsein erreicht ist, ist dieses die absolute Wirklichkeit und jegliche Manifestation ist dem untergeordnet.
1.41, Patanjali Yoga Sutra
1.41. क्षीणवृत्तेरभिजातस्येव मणेर्ग्रहीतृग्रहणग्राह्येषु तत्स्थतदञ्जनता समापत्तिः
kṣīṇa-vṛtter-abhijātasy-eva maṇer-grahītṛ-grahaṇa-grāhyeṣu tatstha-tadañjanatā samāpattiḥ
kṣīṇa = reduziert, entleert, vermindert
vṛtter = Gedankenwellen, Bewegungen des Geistes, Wellen, Trübungen
abhijātasy = von edler Herkunft, Klar, transparent
eva = wie, auch
maṇer = Diamant, Juwel, Kristall, Edelstein
grahītṛ = der Begreifende, Wahrnehmende, das Subjekt
grahaṇa = Mittel zum Begreifen, die Wahrnehmung, Subjekt-Objekt Beziehung
grāhyeṣu = Objekt welches Begriffen wird, das Wahrgenommene, das Objekt
tatstha = eins steht auf dem anderen
tadañjanatā = eins färbt das andere
samāpattiḥ = genaue Erkenntnis, genaues Treffen, Samadhizustand, Verschmelzung, absolute Balance
“Mir ruhigem Geist realisiert der Yogi die Einheit von Subjekt, Objekt und Wahrnehmungsprozess, und wie ein perfekter Diamant nimmt er die Farbe der Umgebung an.”
oder
“Sind die Gedankenwellen Beruhigt, nimmt der Geist wie ein Kristall die Farbe des Objektes an, es verschmilzt das Wahrnehmende, die Wahrnehmung und das Wahrgenommene miteinander ins Überbewusstsein.”
Der Zustand des höchsten Bewusstseins ist jenseits dessen, was wir uns gemeinhin Vorstellen können. Es übersteigt den Verstand und alle Konzepte. Das Subjekt, also die Instanz im Inneren welche Wahrnimmt, verschmilzt mit dem Objekt, also allem was Wahrgenommen werden kann, und dem Prozess der Wahrnehmung. Alles wird eins, das Bewusstsein wird zu einer einzigen Einheit. Es sind diese drei auch Objekte der Meditation: Wir können…
- über Objekte meditieren und unseren Geist ausrichten.
- über das Selbst-Bewusstsein Meditieren, das Subjekt.
- über die Verbindung beider Meditieren, die Wahrnehmung selbst.
Um irgendwann diese miteinander zu verschmelzen und dann zu Erfahren, dass alles eins ist. Je freier wir von unseren Programmierungen und Mustern werden, desto klarer wird unser Geist und nimmt die Form und Farbe der Umgebung an. Also sowohl in der Meditation als auch im richtigen Leben. Je ruhiger wir im Geiste sind, desto reiner können wir unsere Umgebung spiegeln, und damit für Klarheit sorgen. Analog zu dem Bild des Kristalls, welches Patanjali nutzt. Wenn die Denkmuster, die Programme, die Konditionierungen, die Gewohnheiten und Vorstellungen (Alles Worte für vṛtti) transparent geworden sind, dringt die Wahrnehmung ungefiltert, unverfälscht durch zum Wahrnehmenden. Die Wirklichkeit wird unmittelbar erfahren, es findet keine Bewertung mehr statt. So kann dann nach und nach die genannte Verschmelzung stattfinden, und der Kristall immer reiner geschliffen werden.
So heißt es in den alten Schriften:
“Tat Twam Asi- Du bist Das
Also, Das was du wahrnimmst, ist dein Selbst.
Das höchste Brahman, die Seele von allem, die große Stütze der Welt, feiner als das Feine, das immer Seiende, das bist du, das bist du.” Kaivalya-Upanishad.
Swami Sivananda sagt dazu:
“In Samadhi gibt es weder Meditation noch Meditierenden. Der Meditierende und der Gegenstand der Meditation, der Denker und der Gedanke, der Verehrer und das Verehrte werden eins und identisch. Der Geist verliert sein eigenes Bewußtsein und wird identisch mit dem Gegenstand der Meditation. Der Meditierende hat seine Persönlichkeit im Ozean Gottes aufgelöst, ertränkt und vergessen, bis er einfach zum Werkzeug Gottes wird. Wenn sich sein Mund auftut, spricht er mühelos und ohne zu überlegen durch direkte Intuition die Worte Gottes”
Soweit meine Bearbeitung der Verse 40 & 41 des Patanjali Yoga Sutra.